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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Autoren: Liv Winterberg
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beim Mittagessen mit Henriette oder an den Abenden, die sie, über Handarbeiten gebeugt, zusammensaßen. Und während Landon die Insekten betrachtete, entbrannte in Mary der Wunsch, von ihm in den Arm genommen zu werden. Sie wollte festgehalten werden, sich anlehnen und den Kopf auf seine Schulter legen, um für einen Moment dem Alleinsein zu entkommen.
    Sie trat einen Schritt zurück. Ob die Einsamkeit sie verrückt gemacht hatte? Zweifelsfrei: Er sah gut aus, war geschmackvoll gekleidet, und immer wieder fiel ihm diese eine Locke in die Stirn. Er schob sie beständig beiseite, und sie war sicher, er bemerkte es nicht einmal. Aber egal, wie anziehend dieser Mann war, ihr warbewusst, dass sie nicht mitten in der Nacht allein mit ihm in einem Zimmer Zeit verbringen und darauf hoffen konnte, dass er ihre Suche nach Nähe nicht falsch verstehen würde.
    »Hier sind«, fuhr sie fort, »die Spinnentiere ausgestellt. Mittig platziert seht Ihr den italienischen Hausskorpion. Um ihn herum sitzen verschiedene Kreuzspinnen.«
    Vor der Wandnische neben dem Fenster blieb sie stehen und merkte, dass sie wieder zur Ruhe kam. Sie öffnete zwei große Holztüren, und vor ihnen schwebten hinter einer Glasfront zahlreiche Schmetterlinge. Das war ihr der liebste Teil des Kabinetts, und auch Landon schien beeindruckt.
    »Habt Ihr zu dieser Sammlung beigetragen?«
    »An allen Arbeiten, die Ihr hier seht, habe ich Anteil gehabt. Ich habe meinen Vater auf seinen Exkursionen ins Umland begleitet, und auch an der Auswertung der Sammlungsstücke war ich beteiligt.«
    Landons Blick wanderte immer noch über die Schmetterlinge. »Habt Ihr die Nadeln durch die   … Körper gestoßen?«
    Mary nickte.
    Er schaute sie an. Einen Augenblick nur, aber sichtlich irritiert.
    »So ist Wissenschaft eben. Wissenschaft kann nicht anders funktionieren. Die Zeichnung reicht nie an das Original heran, deshalb wollen wir es auf diesem Weg der Nachwelt erhalten.«
Ja
, dachte sie,
wenn du dich darauf einlässt, ist es viel, was hier auf dich einstürzt. Wissen, jahrelang gesammelt und dokumentiert. Es ist die Mischung aus Vergänglichkeit und Aufbewahrung, Tod und Schönheit, von Akribie und Abenteuer. Wenn du ehrlich bist, fasziniert es dich, und gleichermaßen stößt es dich ab. Aber irgendwann spürst du nur noch die Faszination, dann treibt dich die Neugier an, mehr zu erfahren.
»Wir sehen oft nur nicht genau genug hin. Die Natur ist voller Wunder, und wir sammeln sie hier. In unserer Wunderkammer.«
    Nochmals schaute Landon sie an, und abermals war er sichtlichirritiert. Dann drehte er den Kopf beiseite und beugte sich vor, um sich die Schmetterlinge genauer anzusehen.
    Er hat recht
, dachte sie.
Es ist die falsche Formulierung: Es gibt kein »wir« mehr.
Sie schluckte gegen den Druck in ihrer Kehle an, und ihr Blick hielt sich an Landon fest, der zwei Schritte weitergegangen war und mit der rechten Hand über das dunkle Holz der Kommoden strich. Mary öffnete eine der Schubladen. Der unverwechselbare Duft getrockneter Pflanzen stieg auf. »Das ist das Herbarium«, sagte sie und hörte den weichen Klang ihrer Stimme. »Die einzelnen Bögen, auf denen man gepresste Pflanzen aufbewahrt und sie nach ihren Familien und Herkunftsorten sortiert, nennt man Belege. Hier unten in der Ecke notieren wir stets den Fundort, das Funddatum und den Sammler. Ob Schmetterlinge oder Pflanzen – dahinter steht der gleiche Gedanke: Diese Sammlungen sind Dokumentations- und Vergleichsinstrumente. Sie sind die Grundlage unserer Arbeit.«
    »Was seid Ihr für eine Frau«, lachte Landon auf. »Ein Leben an Eurer Seite wäre sicher kurzweilig.«
    Jetzt waren sie angekommen, jetzt war er beim Thema. Deshalb war er hier erschienen. Mary schätzte ihn, seine umfassende Bildung und die überlegten Worte. Sie hatte seine Blicke am Tisch bemerkt und erahnte die Gefühle, die er offensichtlich für sie hegte. Gefühle, die sie nicht erwidern konnte. Die sie nicht kannte. Flugs zeigte sie auf das Kuriositätenregal und stellte die Öllampe so, dass das, was zuvor im Dunkeln gelegen hatte, ins Licht gerückt wurde. Ohne nachzudenken, senkte sie die Stimme: »Das sind Mitbringsel meines Vaters. Er hat sie von den Ausflügen in die Umgebung, von den Reisen durch Europa und der ersten Forschungsfahrt, die er als Arzt und Sammler begleitet hat, mitgebracht.«
    »Darf ich sie berühren?«, fragte Landon. Kaum, dass Mary genickt hatte, ließ er die Finger über die poröse Oberfläche der
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