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Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)

Titel: Vom anderen Ende der Welt: Roman (German Edition)
Autoren: Liv Winterberg
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auf, und er sah die Tränen in ihren Augen.
    Ihm wurde heiß. »Wirklich, ich schäme mich, bitte verzeih mir. Ich bin kein Dieb. Ich war wütend, ich wollte dich mit irgendetwas ärgern.«
    Mit der Ecke ihres Umhangs tupfte sie sich die Augenwinkel trocken und lachte. »Ich freue mich so, dich zu sehen! Danke, dass du gekommen bist, und danke für den Glücksbringer. Er ist von Owahiri, und er wird mir helfen. Da bin ich sicher.«
    Seth nickte und atmete auf.
    »Wir müssen aufbrechen, wenn wir rechtzeitig ankommen wollen.« Der alte Mann war neben Mary getreten, hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt und schaute streng. Ob er ihn wiedererkannte, fragte Seth sich und wich den durchdringend blickenden Augen aus.
    »Komm, bring mich schnell zur Kutsche und erzähl mir, ob du bei Landon lernst«, sagte Mary und eilte dem alten Mann hinterher.
    Mit zwei großen Schritten war er neben ihr. »Ja, der Direktor ist sehr nett. Er lässt mich schon sehr viele Aufgaben übernehmen, und ich habe eine eigene Kammer, in der ich wohne.«
    Sie lächelte. »Ich wusste es. Auch wenn er nicht mehr mit mir redet, er ist ein guter Mann.«
    Ohne nachzudenken, beugte Seth sich vor. »Versprich mir, dass du mich nicht verrätst, ja?«, flüsterte er.
    Neugierig kam Mary näher.
    »Er hat deine Wunderkammer aufgekauft und viele deiner Bücher gelesen«, flüsterte er ihr zu. »Ich habe es gesehen. Erst lagerten die Kisten im Schuppen, später ließ er sie in den Keller des Kontors bringen. Dort bin ich hinuntergeschlichen und habe heimlich nachgeschaut. Dein Name stand in vielen Büchern. Es gibt viele Belege, so wie die, die wir auf der Fahrt angelegt haben. Sie sind gut erhalten, und die Kisten sind voll mit Sammlungsstücken aller Art.«
    Ihre Augen wurden rund. »Was sagst du da?«
    Er nickte heftig. »Freust du dich?«, fragte er, und seine Augen glänzten.
    Die Kutschentür stand offen, doch Mary rührte sich nicht.
    Flugs schaute Seth zu dem Mann und beugte sich erneut vor. »Bitte, glaube mir, er ist dir nicht böse.«
    Ihre Arme flogen in die Höhe und schlossen sich um seinen Hals. Er spürte die kalten Hände, die sich in seinen Nacken legtenund seinen Kopf vorzogen. Ihre Lippen kamen näher, um ihm einen Kuss auf die Stirn zu geben. Er schnappte nach Luft und schaute zu dem Mann, dann zu der Frau in der Tür. Ob sie das gesehen hatten?
    Wortlos drehte Mary sich um und bestieg die Kutsche, die anfuhr. Sie schaute aus dem Fenster, hob die Hand, und ihre Finger deuteten ein Winken an.
    »Ich wünsche dir Glück, Mary«, flüsterte Seth und tastete nach seiner Stirn.
     
    Es war Mittag, als er das Kontor betrat. Der Vorsteher verlor kein Wort, sah ihn nur an, hob den Daumen und zeigte hinter sich, auf das Büro des Direktors.
    Seth hatte gewusst, dass sein Fehlen nicht unentdeckt bleiben würde. Er hatte gewusst, dass es Ärger geben würde, und trotzdem fürchtete er sich nun, dem Direktor gegenüberzutreten.
    Mit gesenktem Kopf betrat er das Zimmer und blieb neben der Tür stehen. Seine Mütze hielt er hinter dem Rücken, und die Finger kneteten den weichen Stoff.
    »Du weißt, dass ich dich dafür sofort auf die Straße setzen kann?« Mr.   Reeds Stimme war ruhig und gelassen und ließ Seths Herz noch schneller schlagen.
    Warum kann er mich nicht anbrüllen und mir eine runterhauen?,
fragte er sich.
    »Jetzt komm schon her, oder willst du da hinten Wurzeln schlagen?«
    Bis zum Tisch trat er vor, doch aufzuschauen traute er sich nicht. »Es tut mir leid«, sagte er leise.
    Mr.   Reed lachte auf. »Das will ich hoffen. Wo warst du?«
    Ihm wurde heiß. Er hatte sich keine Ausrede einfallen lassen. Was war er für ein einfältiger Stümper!
    »Wo warst du? Ich erwarte eine Antwort. Von ihr wird das Strafmaß abhängen.«
    »Ich war bei Mrs.   Fincher. Also, bei ihrem Haus.«
    »Verdammt noch mal, jetzt schau mich an, wenn wir miteinander reden. Was hast du da gemacht?«
    »Ich wollte Miss Linley sehen.«
    »Wie bitte?«
    »Ich hatte noch etwas von ihr. Das wollte ich ihr wiedergeben.«
    »Heute morgen? Du hättest es ihr nicht heute Nachmittag oder in drei Tagen vorbeibringen können?«
    Seth bemühte sich, Mr.   Reed in die Augen zu schauen, und spürte, dass seine Hände feucht wurden. Noch fester packte er seine Mütze. »Nein, sie musste es haben, bevor sie nach London abreiste. Es sollte ihr Glück bringen.«
    »Glück bringen?«
    »Bei ihrer Vorladung, bei der Royal Society.«
    Der Direktor ließ ihn nicht aus den Augen.
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