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Voll Speed: Roman (German Edition)

Voll Speed: Roman (German Edition)

Titel: Voll Speed: Roman (German Edition)
Autoren: Moritz Matthies
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›Gelegenheit‹.«
    »Du meinst«, flüstere ich, »wir laufen Gefahr zu sterben, und die Ratten bekommen die Gelegenheit , uns zu fressen?«
    Kaum haben die Ratten uns umstellt, taucht an einem Ende des Tunnels eine weitere auf. Eine fette Ratte. Eine sehr fette, hinkende Ratte. Il Capo. Der Chef. Während er mit seinem asymmetrischen Watschelgang auf uns zuwackelt, erkenne ich ein halbzerfetztes Ohr, eine Augenklappe und ein schlecht verwachsenes Hinterbein. Das war’s, denke ich. Es war eine tolle Fahrt. Ich hab eine Menge erleben dürfen, so insgesamt – also für ein Erdmännchen, das im Zoo geboren und aufgewachsen ist. Alles in allem sollte ich zufrieden sein, schätze ich, in der Savanne hätte es mich vielleicht schon viel früher erwischt. Ich werde sterben mit dem Gefühl des Fahrtwindes in den Barthaaren und dem Gedanken an Elsa. Danke für alles.
    Der Capo baut sich neben dem Boot auf, blinzelt mich aus einem eitrigen Auge an und hebt eine Vorderpfote: »Jo, man. Peace«, sagt er, und es ist klar, dass nach meinem Hochmut von vorhin jetzt der Fall kommt.
    Ich lehne mich gegen die Reling. Von außen betrachtet, sieht das möglicherweise ganz lässig aus. In Wahrheit aber bin ich ein Boxer, der bereits vor dem Kampf in den Seilen hängt. »Jo«, höre ich mich sagen. Im Angesicht des Todes. Jo. Wenn es nicht so traurig wäre …
    Dann höre ich auch Rufus etwas sagen. »Was soll’n das werden?«
    Wahrscheinlich hab ich ihn zeitlebens unterschätzt.
    Der Capo lässt ein heiseres Krächzen hören, das möglicherweise in seinem letzten Leben ein Lachen war. Die anderen Ratten nicken folgsam mit den Köpfen. »Ihr seid lustig, Jungs.« Pause. »Miami, wir kommen …« Pause. »Wirklich lustig …«
    Rufus’ Krallen zittern so sehr, dass seine Klaue nicht einmal mehr das Lenkrad umfassen kann. Die andere tastet derweil am Trafokasten herum.
    »Irgendwie mag ich euch«, röchelt der Capo, und ich frage mich, ob das bedeutet, dass er uns mit Messer und Gabel vom Teller essen wird. »Also … Ihr könnt gehen.« Pause. »Boot bleibt hier, versteht sich.«
    »Klingt fair«, stottere ich und will mich in Bewegung setzen, habe allerdings die Rechnung ohne meine Knie gemacht und klatsche erst einmal der Länge nach auf die Heckplattform. Als ich mich aufrappele, sehe ich, dass Rufus sich keinen Millimeter bewegt hat. »Hast du nicht gehört«, zische ich, »der lässt uns laufen. Komm schon …«
    Im nächsten Moment stellt sich heraus, dass ich meinen Bruder nicht zeitlebens unter-, sondern überschätzt habe. »Unter keinen Umständen«, raunt er dem Capo zu. Ein knappes Kilogramm Fleisch gewordener Größenwahn.
    Der Capo tritt einen Schritt zurück und blickt uns ungläubig an. »Wie war das?«
    Rufus deutet mit seiner zittrigen Pfote auf den Bootsrumpf: »Hast du nicht gelesen, was da steht?«
    Die Ratte schwillt an: »Seh ich aus wie ein Mensch?«
    »Da steht …«, setzt mein Bruder an, doch dem Capo geht die Geduld aus.
    »Was da steht, interessiert mich nicht«, schneidet er Rufus das Wort ab. »Und jetzt macht, dass ihr da runterkommt!«
    »Tut mir leid«, erwidert mein Bruder.
    Ich überlege, ob man als Erdmännchen wohl eine Chance hat, wiedergeboren zu werden, und wenn ja, ob ich dann doch noch die Savanne sehen werde oder ob ich vielleicht auch als Chinchilla wiedergeboren werden könnte, und Elsa würde mich erkennen, meine wahre Seele, der Gleichklang unserer Herzen …
    Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment sagt der Capo: »War nett mit euch, Jungs.«
    Er rückt sich die Augenklappe zurecht und gibt den beiden Ratten, die sich am Heck postiert haben, ein Zeichen. Im selben Augenblick scheint Rufus’ Klaue auf der Rückseite des Trafos etwas ertastet zu haben.
    »Reling loslassen«, schnalzt er mir zu.
    Die beiden Ratten haben sich unterdessen zu einer Art lebender Rampe formiert, eine dritte Ratte nimmt Anlauf, springt der ersten auf den Rücken, der zweiten, spreizt die Vorderbeine, stößt ein grässliches Fauchen aus, fliegt mit aufgerissenem Maul auf das Boot zu, bekommt die Reling zu fassen … verdreht die Augen, bis nur noch das Weiß zu sehen ist, lässt ein finales Keuchen hören und klatscht ins Wasser. Während sie Bauch nach oben an ihm vorbeitreibt, legt der Capo schwerfällig den Kopf schief. Ich zittere am ganzen Körper und habe nur noch einen Gedanken: Auf keinen Fall die Reling anfassen!
    Rufus zittert ebenfalls, dennoch gelingt es ihm, sich zu voller Größe
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