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VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)

VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)

Titel: VILM 02. Die Eingeborenen (German Edition)
Autoren: Karsten Kruschel
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folgte der korpulente Körper eines jungen Mannes, der tadelnd den Kopf schüttelte. Das Eingesicht ahmte die Bewegung in einer grotesken Kopie nach. »Ich bin ganz allein, Carl«, sagte Will und setzte sich; flugs ringelte sich ein pelziger, stämmiger Körper um seine Füße.
    »Ich weiß«, sagte Carl. »Ich weiß. Ich habe nur nicht die geringste Ahnung, ob ich mich jemals daran gewöhnen werde, keiner von euch zu sein. Oder ob ich damit leben kann.« Er saß an einem Tisch, der mit allerlei Papieren bedeckt war. Nur eine einzelne Lampe warf Licht auf das Durcheinander.
    Will musterte seinen großen Bruder mit allen vier Augen. Das Bild unterschied sich deutlich vom Gewohnten; seine menschlichen Augen erblickten einen mageren, geradezu hageren Mann, der für seine neunzehn Jahre alt aussah. Tiefe Falten führten von den Nasenflügeln zu seinen Mundwinkeln, die Augen waren eingesunken und größer, als gesund sein konnte. Wills vilmsche Augen ergänzten den wenig erfreulichen Anblick. Sie sahen Verzweiflung und Einsamkeit. Sie sahen nicht dieselbe Einsamkeit wie bei den Erwachsenen, die nie in ihrem Leben die Chance hatten, Vilmer zu werden. Carl war stummblind. Er hatte, kurz nach Will, die Pseudo-Diphtherie bekommen, allerdings hatte die Krankheit nichts in ihm verändert. Niemals hatte das Wetter zu ihm gesprochen, niemals war ein Eingesicht in seine Gedanken eingedrungen, er war einzeln und unkomplett geblieben. Will pflegte jeden anderen Vilmer zu beißen, der auch nur andeutete, sein Bruder könnte ein Krüppel sein. Eingesichter konnten gemein beißen. Und Carl war einer von ihnen. Er trug das gemeinsame Muttermal all der Vilmer der ersten Stunde am Hals, die Narbe jenes Einschnitts, der jedem Einzelnen von ihnen das Leben gerettet hatte. Später hatten die Kinder die Krankheit leichter überlebt, und Will sagte oft, dass die Vilmgeborenen heutzutage bereits im Mutterleib die Pseudo-Diphtherie bekamen. Jetzt schwieg Will. Carl würde – so oder so – damit leben müssen, ein misslungenes Vilmkind zu sein. Er war damit nicht allein, so etwas kam hin und wieder vor. Manchmal machte die Krankheit mit dem einen Kind nicht dasselbe wie mit den anderen. Was zurückblieb, war mehr als ein bedauernswerter Erwachsener, jedoch weniger, viel weniger als ein Vilmer. Carl konnte die Verbindung zwischen menschlichem Körper und vilmschem Eingesicht zwar spüren, und er ahnte sicherlich, was das in Wirklichkeit bedeutete, aber er konnte diese Verbindung nicht selbst eingehen. Bei diesem Gedanken spürte Will eine ungewohnte, sehr heftige Emotion: Mitleid. Was konnte er tun? Seinen Bruder in den Arm nehmen? Ihm irgendwelchen tröstenden Unsinn ins Ohr raunen? Ihm bei der Gelegenheit den Hals brechen, nur aus Mitleid?
    Carl blickte auf, als ihm ein warmes, fellbedecktes Etwas um die Beine strich. Er lächelte. »Fast so, als ob du es wüsstest«, sagte er.
    Will sah Carl verblüfft an. »Was?«
    Der große Bruder feixte Will an und schnitt eine Grimasse. »Dum-bidum-didum«, sagte er, »vielleicht macht es mir Spaß, dass du mal nicht alles weißt.«
    Will registrierte, dass diese Worte an sein Eingesicht gerichtet waren, an die spitzen felligen Ohren. Carl hatte seinen etwas zu dick geratenen kleinen Bruder nicht angeblickt. »Wir brauchen dich«, sagte er. Seine Augen hefteten sich mit dem herzigen Ausdruck eines treuen Schäferhundes auf Carl.
    Carl grinste. »Prima Vorstellung. Und was ist los?«
    Will war sehr ernst, als er seinen stummblinden Bruder anblickte. Seine Pfoten kamen zur Ruhe; nur seine Mittelpfoten, die ihre feinen empfindlichen Klauen unentwegt öffneten und schlossen, verrieten seine Aufregung. »Wir haben da ein Problem«, sagte er, »eines, bei dem du uns helfen könntest.«
    Carl war verblüfft. »Ich? Wieso gerade ich? Wie kommst du darauf?«
    »Ganz einfach«, sagte Will. »Du bist von denen, die in Frage kommen, der Älteste. Du könntest unser Problem am ehesten verstehen.«
    Carl wandte seinen Blick vom Eingesicht ab und blickte seinem kleinen Bruder endlich wieder direkt ins Gesicht. »Was genau meinst du damit – von denen, die in Frage kommen?«
    Will seufzte. »Es gibt nur wenige Stummblinde unter uns«, sagte er.
    »Das mag wahr sein«, entgegnete Carl und dachte über diesen merkwürdigen Begriff nach. Stummblind. Nun ja. Hin und wieder klappte nicht, was immer diese Welt mit den Kindern anstellte, und irgendetwas blieb so rudimentär und unvollkommen, wie es nun einmal war. Carl hatte
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