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Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)

Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)

Titel: Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
Autoren: Edi Graf
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hatten. Aus
seiner Nase wuchsen dichte Haarbüschel, die sich mit den Haaren des ungepflegten
Bartes zu einem wilden Urwald vereinigten.
    Gelbe Flecken
in den Mundwinkeln und an Zeige- und Ringfinger seiner linken Hand verrieten den
Kettenraucher, der flackernde Blick und das nervöse Zucken seiner Gesichtszüge waren
Spuren, die der Alkohol hinterlassen hatte. Seine Haltung war gebückt, die Bewegungen
langsam, fast chamäleonhaft schleichend, dabei ging sein Atem pfeifend wie bei einem
Asthmatiker, unterbrochen von einem lauten, röchelnden Raucherhusten.
    Schwerfällig
stand er jetzt auf und sah sich um. Im Garten der Alten blühten die ersten Veilchen,
und in den Beeten setzten weiße, violette und gelbe Krokusse bunte Farbtupfer. Schneeglöckchen
und Märzenbecher waren schon hinüber, aber die Schlüsselblumen eroberten jetzt die
kleine Wiese mit ihren gelben Blüten.
    Die tief
stehende Sonne, die an diesem Märzentag vom wolkenlosen Himmel über dem Hegau lachte,
verstärkte die Wirkung ihrer Farben, die Wärme auf der Haut tat gut. Er hatte seinen
alten Mantel über den Gartenzaun gehängt und trug nur ein zerschlissenes kariertes
Wollhemd, das lose über der abgetragenen Cordhose hing. Rasiert hatte er sich seit
Tagen nicht mehr und gewaschen ebenfalls nicht.
    Er selbst
hatte kein Problem damit. Und der Lene war das auch egal gewesen. Sie hatte die
Menschen so genommen, wie sie waren. Sie hatte auch ihn so akzeptiert, wie er war
und nie nach dem Warum gefragt. Das hatte er sehr an ihr gemocht. Unter anderem.
Dabei hätte er ihr sogar das eine oder andere erzählt. Über sich. Über seine Vergangenheit.
Sein Leben. Seine Familie. Seine Einsamkeit.
    Dass er
einen ordentlichen Beruf erlernt hatte und als Schreiner in einem Betrieb in Radolfzell
angefangen hatte. Dass es ihn dann aber auf den Bau zog und er Kranführer geworden
war. Wie er es genossen hatte, die Welt dort von oben zu sehen. Und dann der Unfall.
Manchmal hörte er das Geräusch in seinen Träumen. Wie sich die Stricke der Palette
lösten und die Backsteine den Kollegen unter sich begruben. Wie sie ihm die Schuld
gaben und er zu trinken anfing. Und dann Helga. Seine Frau, die sich nach dem Unfall
auf dem Bau für ihn schämte und den Dorfklatsch nicht ertrug. Seine beiden Kinder,
die er über alles liebte, die er vergötterte. Und die sich vor ihm versteckten,
weil die anderen in der Schule schreckliche Dinge über ihn erzählten. Und die ihn
schließlich hassten.
    Dann sein
Bruder. Dieses Schwein! Nie vergaß er das Bild.
    Helga und
sein Bruder Olaf.
    Die Scheidung,
der Unterhalt, der Ruin. Sein Selbstmordversuch. Sein Absturz. Lene hätte er das
alles erzählt. Und sie wäre die Einzige gewesen.
    Lene war
auch die Einzige gewesen, die nie ›Pulle‹ zu ihm gesagt hatte. Und die nichts dagegen
hatte, wenn er trank. Sie hatte ihn ›Herr Eberle‹ genannt. Und später Jakob und
›Sie‹. Er hatte sich nie getraut, ihr das ›Du‹ anzubieten, nicht weil er die paar
Jahre jünger war. Nein, eher weil er zu schüchtern war. Vielleicht auch, weil er
es genoss, dass sie ihn siezte, ihn respektierte, ›Guten Tag, Jakob, wie geht es
Ihnen‹ sagte, und nicht: ›Hoi, Pulle, na wieder mal nüchtern?‹.
    Er war ihr
Gärtner, ihr Handwerker, und einmal im Monat ihr Bote. Der frische Strauchschnitt
der letzten Tage lag zu Bündeln verschnürt noch dort, wo er ihn für sie gelagert
hatte. Heute war er gekommen, um der Eibe die Krone zu nehmen und den Hibiskus zurechtzustutzen.
Und er wollte ihr helfen, die Kakteen, die den Winter in der Waschküche verbracht
hatten, auf die Terrasse zu tragen, wo sie sich in den nächsten trüben, aber warm
angesagten Tagen ans Frühlingslicht gewöhnen sollten. So wie er ihr in den letzten
Jahren immer geholfen hatte bei Dingen, die eine 75jährige im Garten allein nicht
bewältigen konnte. Und auch sonst.
    ›Jakob,
waren Sie schon auf der Bank?‹
    Seine Hand
tastete nach dem Umschlag in seiner Hosentasche. Das Kuvert. Sie hatte Vertrauen
zu ihm. Das mochte er ebenfalls an ihr. Für sie war er kein verkommenes Subjekt,
kein Säufer, der im Sommer am Ufer des Untersees schlief und sich im Winter in den
Lagerschuppen des Kieswerks auf der Höri einquartierte.
    Für sie
war er ein Mensch. Ihr Vertrauen schmeichelte ihm, und er hätte es nie missbraucht.
Der Umschlag erinnerte ihn daran. 500 Franken. Die hatte er ihr bringen wollen,
wie jeden Monat. Stattdessen fand er ihre Leiche.
    Konnte er
das Geld jetzt behalten?
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