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Verrückt bleiben

Verrückt bleiben

Titel: Verrückt bleiben
Autoren: Else Buschheuer
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in völliger Vereinsamung. Von den Nachbarn hört man Zitate wie »hat keinen Kontakt zur Umwelt mehr gefunden«, »ein übriggebliebenes Fräulein«, »ein eigentümlicher Mensch«, »menschenscheu«, »immer auf Distanz«, »vollkommen verkapselt«, »Jungfernschrullen«.
    Am 10. März 1969, mittags, nimmt sie Schlaftabletten und wird um 19 Uhr von der Feuerwehr gefunden, angekleidet auf dem Sessel sitzend, kaum mehr atmend. Sie stirbt auf dem Weg zum Krankenhaus. In ihrem Abschiedsbrief an den Neffen bittet sie um Verzeihung, weil sie so viele Umstände macht. In ihrem Nachlass findet sich ein nicht abgeschickter Brief an die Schwester. Sie schreibt, dass sie immer müde sei, mit einem gehörigen Schuss Lebensüberdruss. Sie lobt und empfiehlt die Volkshochschule: »Die Menschen dort haben Ideale, sie streben einem Ziel entgegen, das ihrem Leben Inhalt gibt.« Von der Herzenssehnsucht, Wissen zu erreichen, schreibt Klara Heydebreck, vom Versuch, dem Leben etwas abzutrotzen, seinen Verstandesapparat nicht verkümmern zu lassen. Fechners Kamera bleibt in Heydebrecks verwaisterWohnung. Der Strom wird noch mal abgelesen. Der neue Mieter klopft an und will die Wände vermessen. In vier Wochen, wenn er einzieht, ist alles, was an Klara Heydebreck erinnert, weggeräumt.
    Aber sie hat nicht umsonst gelebt. Sie lebt weiter in Fechners mehrfach ausgezeichnetem Film. Sie lebt weiter in ihrer schrammeligen Gitarre, die bei irgendeinem Trödler gelandet ist. Sie lebt weiter in meinem Kopf. Und nun auch in Ihrem.

23. Würdelos altern
    »Sag mal, schämst du dich nicht, in deinem Alter?«
    »Wolke Neun«

Als ich klein war, war Altsein eine Skurrilität für mich, vor allem, wenn meine Oma die Zähne aus dem Glas nahm, fürs Familienfoto. Alte Leute waren immer alt, und junge blieben immer jung. Aus dem Rotkäppchen wird nie eine Großmutter, niemals! Alt sind immer nur die anderen. Und jetzt? Wie lange noch? Wie lange kann ich mir diesen Hochmut noch leisten?
    Wann werde ich in der Galeria Kaufhof an der Prosecco-Theke sitzen, mit Make-up, das sich in meinen Mimikfurchen sammelt, mit Lippenstift am Zahn und diesem lauten, leicht verzweifelten Altweiberlachen, wann? Wann werde ich anfangen, Anzeigen für Gebisskleber, Treppenlift und Schamlippenstraffung genauer anzuschauen?
    Es ist ungerecht! An antiken Koffern wollen wir Patina. Der Wein muss lagern, der Käse stinken, in alten Töpfen kocht es sich am besten, und erst die himmlische Musik, die man auf alten Geigen machen kann, aber sobald der Mensch die erste Falte wirft, springt eine große Verhinderungsmaschinerie an.
    Zeit ist wie ein Aal in der Hand. Während wir über sie nachdenken, vergeht sie. Der Held in Prousts Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« versucht, im Schreiben und Sich-Erinnern die Zeit festzuhalten. Aber wir können die Zeit gar nicht greifen. Sie greift uns.
    Der polnische Konzeptkünstler Roman Opalka hat einmal Selbstporträts ausgestellt, sechs Fotos, im Abstand von fünf Jahren gemacht. Im selben Hemd, mit derselben Frisur, demselben Gesichtsausdruck. Das war sein Versuch, die Zeit festzuhalten – 30 Jahre seines Lebens. Auf den Fotos ist nicht die Zeit selbst zu sehen, sondern der Zahn der Zeit, der an einemMenschen nagt: Die Haare werden weißer und dünner, die Haltung schlaffer, Falten graben sich ins Gesicht. Er fragt: Wer bin ich? Bin ich der, der ich heute bin? Bin ich der, der ich gestern war? Bin ich die Summe all derer, die ich festgehalten habe?
    Nur die Phantasie kann die Zeit zurückdrehen. In der Science-Fiction-Komödie »Zurück in die Zukunft« reist ein 17-Jähriger in die Vergangenheit und ändert dadurch die Geschichte. Er schafft sich um ein Haar selbst ab. In einer Szene hält er seinen eigenen Urgroßvater als Baby auf dem Arm. Aber das geht nur im Kino.
    In meinem Haus wohnt ein altes Ehepaar. Einmal in der Woche fahren die beiden mit grimmigen Gesichtern in weinrot lackierten Elektro-Scootern einkaufen. Sie haben die Anmutung eines Killerkommandos. Sie erregen kein Mitleid, eher Furcht. Ja, tatsächlich, ich fürchte sie ein bisschen. Wer sich nicht schnell genug gegen die Wand drückt, wenn sie, mit Einkäufen bepackt, in den Fahrstuhl sausen, könnte zermalmt werden.
    Altern war früher irgendwie diskreter. Omas sahen aus wie Omas, Opas sahen aus wie Opas. Die Alten nahmen klaglos die ihnen zugedachte Rolle an, verhutzelten, verloren immer mehr Farbe, bis sie fast durchsichtig waren. In Häuten, die sie wie zu
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