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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben
Autoren: Paulo Coelho
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einerseits und Beklemmung andererseits kannte er sehr genau.
Nehmen wir also Abstand von Paulo Coelho und Veronika, der Freundin, und fahren wir mit der Geschichte fort.
Veronika wußte nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Sie
erinnerte sich daran, daß sie irgendwann mit Schläuchen in
Mund und Nase aufgewacht war und eine Stimme hörte, die
sie fragte
»Möchten Sie, daß ich Sie masturbiere?«
Doch jetzt, da sie sich mit weit offenen Augen im Zimmer umsah, wußte sie nicht, ob das wirklich geschehen oder
eine Halluzination gewesen war. Doch an etwas anderes
konnte sie sich nicht erinnern.
Die Schläuche waren herausgenommen worden. Doch sie
hatte noch immer Kanülen überall im Körper, Elektroden an
Herz und Kopf, und ihre Arme waren festgebunden. Unter
dem Laken war sie völlig nackt. Sie fror. Doch sie wollte sich
nicht beklagen. Der Bereich, in dem ihr Bett und die Geräte
für die medizinische Intensivbehandlung standen, war von
grünen Vorhängen umgeben. Und neben ihrem Bett saß eine
Krankenschwester auf einem weißen Stuhl und las in einem
Buch.
Die Frau hatte dunkle Augen und braunes Haar. Dennoch
war Veronika sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Person
war, mit der sie vor ein paar Stunden - Tagen? - gesprochen
hatte.
»Könnten Sie meine Arme losbinden?«
Die Krankenschwester hob den Blick, antwortete mit einem trockenen »nein« und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
Ich lebe, dachte Veronika. Nun fängt alles wieder von
vorn an. Eine Zeitlang behalten sie mich noch hier, bis sie
feststellen, daß ich vollkommen normal bin. Dann entlassen
sie mich, und ich werde die Straßen von Ljubljana wiedersehen, den runden Hauptplatz, die Brücken, die Leute auf
dem Weg zu oder von der Arbeit.
Da die Menschen dazu neigen, anderen zu helfen - nur
damit sie sich besser fühlen, als sie tatsächlich sind -, wer-
den sie mir meine Stelle in der Bibliothek wiedergeben. Mit
der Zeit werde ich dieselben Bars und Nachtclubs wie früher
besuchen, mit meinen Freunden über Ungerechtigkeit und
Probleme der Welt reden, ins Kino gehen, Spaziergänge um
den See machen.
Da ich Tabletten genommen habe, bin ich nicht entstellt:
Ich bin weiterhin jung, hübsch, intelligent, und ich werde
weiterhin keine Schwierigkeiten haben, Männer kennenzulernen. Ich werde mit ihnen schlafen, entweder in ihren
Wohnungen oder im Wald, es bis zu einem gewissen Grad
genießen, doch gleich nach dem Orgasmus wird die Leere
wieder da sein. Wir werden uns nicht viel zu sagen haben
und es beide wissen. Irgendwann kommt dann der Moment
der ersten Ausflüchte im Stil von >Es ist schon spät< oder
>Morgen muß ich früh aufstehen<. Und dann trennt man
sich am besten so schnell wie möglich und schaut sich dabei
tunlichst nicht in die Augen.
Ich kehre in das Zimmer zurück, das ich im Kloster gemietet habe. Versuche ein Buch zu lesen, schalte den Fernseher ein, um die ewig gleichen Programme zu sehen, stelle
den Wecker, um zu genau derselben Zeit aufzuwachen wie
am Tag zuvor, erledige mechanisch alle Aufgaben, mit denen
man mich in der Bibliothek betraut. Esse ein Sandwich
in der Grünanlage vor dem Theater, sitze auf derselben
Bank wie immer zusammen mit anderen Leuten, die auch
immer dieselben Bänke aufsuchen, um ihren Imbiß zu essen,
den gleichen leeren Blick haben, aber vorgeben, mit unglaublich wichtigen Dingen beschäftigt zu sein.
Dann kehre ich zur Arbeit zurück, höre mir den Klatsch
darüber an, wer gerade mit wem geht, wer gerade erkrankt
ist und woran und wer sich wegen eines Ehepartners die
Augen ausweint, und habe das Gefühl, privilegiert zu sein.
Ich bin hübsch, habe eine Stellung, kann den Mann bekommen, den ich will. Und am Abend gehe ich wieder in die
Bars, und alles fängt von vorn an.
Meine Mutter, die sich wahrscheinlich wegen meines
Selbstmordversuchs wahnsinnige Sorgen macht, wird sich
vom Schreck erholen und mich weiter mit ihren Fragen
löchern, was ich denn aus meinem Leben machen will,
warum ich nicht wie die ändern bin, wo doch letztlich alles
nicht so kompliziert ist, wie ich meine. >Sieh mich an, ich
bin doch auch seit Jahren mit deinem Vater verheiratet und
habe versucht, dir die bestmögliche Ausbildung zu geben
und dir ein Vorbild zu sein.<
Eines Tages, wenn ich es endgültig satt habe, mir immer
den gleichen Sermon anzuhören, werde ich ihr zu Gefallen
den Mann heiraten, den ich mir zu lieben einrede. Wir werden
gemeinsame Zukunftsträume entwickeln, ein Haus auf
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