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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben
Autoren: Paulo Coelho
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für ein
Gespräch mit ihm.
    Weil sie den Autor kennengelernt hatte, dachte sie, er sei
auch Teil ihrer Welt, und etwas über seine Arbeit zu lesen
würde ihr bestimmt helfen, sich die Zeit zu vertreiben.
Während sie auf den Tod wartete, begann Veronika über ein
Computerspiel zu lesen, etwas, das sie im Grunde überhaupt
nicht interessierte. Aber das war typisch für sie. Ihr ganzes
Leben hatte sie den Weg des geringsten Widerstands
beziehungsweise das Nächstliegende gewählt, wie zum Beispiel jetzt diese Zeitschrift.
    Die Beruhigungsmittel hatten sich in ihrem Magen noch
nicht aufgelöst, aber Veronika war von Natur aus passiv. Bereits die erste Zeile jedoch riß sie unverhofft aus ihrer Lethargie und führte dazu, daß sie zum ersten Mal überlegte,
ob an dem Modeausdruck »nichts auf dieser Welt geschieht
zufällig« nicht doch etwas Wahres sei.
    Wieso dieser erste Satz gerade jetzt, da es ans Sterben
ging? Welche verborgene Botschaft starrte ihr da entgegen,
sofern es überhaupt so etwas wie verborgene Botschaften
gibt und nicht einfach Zufälle.
    Unter einem Bild aus diesem Computerspiel leitete der
Journalist sein Thema mit der Frage ein: »Wo liegt Slowenien?«
>Keiner weiß, wo Slowenien liegt<, dachte sie. >Nicht einmal
das.<
    Doch Slowenien gab es, und es lag dort draußen, hier
drinnen, in den Bergen ringsum und auf dem Platz vor ihrem
Fenster: Slowenien war ihre Heimat.
    Sie legte die Zeitschrift zur Seite. Warum sollte sie sich
jetzt über eine Welt aufregen, die nichts von Slowenien
wußte: Die Ehre ihrer Nation ging sie nichts mehr an. Jetzt
galt es, stolz auf sich selbst zu sein, sich zu ihrer Tat zu gratulieren, dazu, daß sie endlich den Mut gefunden hatte, dieses
Leben zu verlassen: Welch eine Freude! Und sie tat es so,
wie sie es sich immer ausgemalt hatte - mit Tabletten, die
keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
    Veronika hatte fast sechs Monate gebraucht, um sich die
Tabletten zu besorgen. Sie hatte schon geglaubt, es nie zu
schaffen, schon überlegt, sich die Pulsadern aufzuschneiden.
Doch auch wenn dies ein blutiges Zimmer bedeutet und die
Nonnen verwirrt und bekümmert hätte, verlangt ein Selbstmord, daß man zuerst an sich und dann erst an die anderen
denkt. Wenn irgend möglich sollte ihr Tod unspektakulär
ausfallen, doch wenn es sich nicht umgehen ließ, würde sie
sich eben die Pulsadern aufschneiden - und die Nonnen
müßten dann halt das Zimmer säubern und dann schnellstens das Ganze vergessen. Sonst würde es schwierig werden,
das Zimmer wieder zu vermieten; Jahrtausendwende hin
oder her - die Leute glaubten immer noch an Gespenster.
    Natürlich könnte sie sich auch von einem der wenigen
hohen Häuser Ljublanas stürzen. Doch würde das ihren
Eltern nicht noch zusätzliches Leid bescheren? Zu dem
Schock über den Tod der Tochter käme noch die Zumutung,
die verstümmelte Leiche identifizieren zu müssen: Nein,
das war noch schlimmer, als zu verbluten, denn es würde
zwei Menschen, die doch nur das Beste für sie wollten, völlig
zerstören.
    Daran, daß ihre Tochter tot war, würden sie sich am Ende
gewöhnen. Doch über einen zertrümmerten Schädel würden
sie nicht hinwegkommen.
    Sich erschießen, sich von einem Hochhaus stürzen, sich
erhängen, das alles paßte nicht zu ihrer weiblichen Natur.
Wenn Frauen sich umbringen, greifen sie zu romantischeren
Mitteln, wie sich die Pulsadern durchschneiden oder eine
Überdosis Schlafmittel nehmen. Verlassene Prinzessinnen und
Hollywoodstars haben es ihnen vorgemacht.
    Veronika wußte, Leben bedeutete, immer den richtigen
Augenblick zum Handeln abzupassen. Und so war es dann
auch gewesen; zwei ihrer Freunde, die sich ihre Klagen darüber, daß sie nicht einschlafen konnte, zu Herzen nahmen,
hatten ihr jeder zwei Schachteln einer starken Droge besorgt,
die die Musiker einer Disko in der Stadt nahmen. Veronika
hatte die vier Schachteln eine Woche lang auf ihrem
Nachttisch liegen gehabt, mit dem nahenden Tod geflirtet
und sich ohne irgendwelche Sentimentalität von dem verabschiedet, was man Leben nennt.
    Jetzt war sie zwar glücklich darüber, bis zum Ende gegangen
zu sein, aber auch gelangweilt, weil sie nicht wußte, was sie
mit der ihr noch verbleibenden kurzen Zeit anfangen sollte.
    Sie dachte wieder an diesen absurden Satz, den sie soeben
gelesen hatte. Wie konnte ein Artikel über ein Computerspiel mit der idiotischen Frage beginnen: »Wo liegt Slowenien?«
    Da sich weiter nichts
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