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Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe

Titel: Verliebt in die verrückte Welt - Betrachtungen, Gedichte, Erzählungen, Briefe
Autoren: Insel Verlag
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Gedichtbuch«, 27. Mai 1934
Vergänglichkeit
    V om Baum des Lebens fällt
    Mir Blatt um Blatt,
    O taumelbunte Welt,
    Wie machst du satt,
    Wie machst du satt und müd,
    Wie machst du trunken!
    Was heut noch glüht,
    Ist bald versunken.
    Bald klirrt der Wind
    Über mein braunes Grab,
    Über das kleine Kind
    Beugt sich die Mutter herab.
    Ihre Augen will ich wiedersehn,
    Ihr Blick ist mein Stern,
    Alles andre mag gehn und verwehn,
    Alles stirbt, alles stirbt gern.
    Nur die ewige Mutter bleibt,
    Von der wir kamen,
    Ihr spielender Finger schreibt
    In die flüchtige Luft unsre Namen.
    Februar 1919
Alle Tode
    A lle Tode bin ich schon gestorben,
    Alle Tode will ich wieder sterben,
    Sterben den hölzernen Tod im Baum,
    Sterben den steinernen Tod im Berg,
    Irdenen Tod im Sand,
    Blätternen Tod im knisternden Sommergras
    Und den armen, blutigen Menschentod.
    Blume will ich wieder geboren werden,
    Baum und Gras will ich wieder geboren werden,
    Fisch und Hirsch, Vogel und Schmetterling.
    Und aus jeder Gestalt
    Wird mich Sehnsucht reißen die Stufen
    Zu den letzten Leiden,
    Zu den Leiden des Menschen hinan.
    O zitternd gespannter Bogen,
    Wenn der Sehnsucht rasende Faust
    Beide Pole des Lebens
    Zueinander zu biegen verlangt!
    Oft noch und oftmals wieder
    Wirst du mich jagen von Tod zu Geburt
    Der Gestaltungen schmerzvolle Bahn,
    Der Gestaltungen herrliche Bahn.
    Dezember 1919
Stufen
    W ie jede Blüte welkt und jede Jugend
    Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
    Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
    Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
    Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
    Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
    Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
    In andre, neue Bindungen zu geben.
    Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
    Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.
    Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
    An keinem wie an einer Heimat hängen,
    Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
    Er will uns Stuf um Stufe heben, weiten.
    Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
    Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
    Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
    Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
    Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
    Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
    Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden . . .
    Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
    4. Mai 1941
Spruch
    S o mußt du allen Dingen
    Bruder und Schwester sein,
    Daß sie dich ganz durchdringen,
    Daß du nicht scheidest Mein und Dein.
    Kein Stern, kein Laub soll fallen –
    Du mußt mit ihm vergehn!
    So wirst du auch mit allen
    Allstündlich auferstehn.
    Dezember 1908

Anhang
Zeittafel
    1877   geboren am 2. Juli in Calw/Württemberg als Sohn des baltischen Missionars und späteren Leiters des »Calwer Verlagsvereins« Johannes Hesse (1847-1916) und dessen Frau Marie verw. Isenberg, geb. Gundert (1842-1902), der ältesten Tochter des namhaften Indologen, Sprachwissenschaftlers und Missionars Hermann Gundert.
    1881-1886   wohnt Hesse mit seinen Eltern in Basel, wo der Vater bei der »Basler Mission« unterrichtet und 1883 für seine Familie die Schweizer Staatsangehörigkeit erwirbt (zuvor: russische Staatsangehörigkeit).
    1886-1889   Rückehr der Familie nach Calw (Juli), wo Hesse das Reallyzeum besucht.
    1890-1891   Lateinschule in Göppingen zur Vorbereitung auf das württembergische Landexamen (Juli 1891), der Voraussetzung für eine kostenlose Ausbildung zum ev. Theologen im »Tübinger Stift«. Als Stipendiat muß Hesse auf sein Basler Bürgerrecht verzichten. Deshalb erwirbt ihm der Vater im November 1890 die württembergische Staatsangehörigkeit (als einzigem Mitglied der Familie).
    1891-1892   Seminarist im ev. Klosterseminar Maulbronn (ab September 1891), aus dem er nach
     7 Monaten flieht, weil er »entweder Dichter oder gar nichts werden« will.
    1892   Sanatoriumsaufenthalt im religiösen Heil- und Erweckungszentrum
     Bad Boll (April bis Mai), Selbstmordversuch (Juni), Überweisung in die Nervenheilanstalt Stetten (Juni-August). Aufnahme in das Gymnasium von
     Cannstatt (November 1892), wo er
    1893   im Juli das Einjährig-Freiwilligen-Examen (Obersekundarreife)
     absolviert. »Werde Sozialdemokrat und laufe ins Wirtshaus. Lese fast nur Heine, den ich sehr nachahmte.« Im Oktober Beginn einer Buchhändlerlehre in
     Eßlingen, die er aber schon nach drei Tagen aufgibt.
    1894-1895   15 Monate als Praktikant in der Calwer Turmuhrenfabrik Perrot. Plan, nach Brasilien
    
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