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Vergossene Milch

Vergossene Milch

Titel: Vergossene Milch
Autoren: Chico Buarque
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mehr deine Mutter im Traum, wälzte mich nicht mehr im Schlaf, bis ich auf der rechten Bettseite aufwachte, wo sich in der Matratze noch die Mulde von ihr befand. Und als wir in den Vorort zogen, konnte ich das Ehebett mit dir teilen, ohne dass die Gefahr bestand, ich könnte Matilde, Matilde, Matilde rufen oder mitten in der Nacht unpassende Wörter von mir geben. Selbst als ich in einer Einzimmerunterkunft, in einer Gegend für sozial Schwache, in der lautesten Straße einer Schlafstadt lebte, selbst in Verhältnissen wie ein kastenloser Hindu habe ich nicht für eine Sekunde die Haltung verloren. Ich trug seidene Pyjamas mit dem Monogramm meines Vaters, verzichtete auch nicht auf einen Samtmorgenrock für den Weg zum Schuppen hinten, in einen Waschraum mit Mörtelwänden und Zementfußboden. Meine Toilette war mühsam, denn als Dusche diente ein launisches Rohr, aus dem das Wasser mal tröpfelte, mal sich in kräftigem Strahl über die Latrine ergoss. Und in dieser Situation erlebte ich eine späte und vielleicht allerletzte Vision von Matilde, wie eine Art Schwanengesang. Unter einem Rinnsal versetzte ich mich zurück in das Badezimmer unseres Chalets und träumte von seiner kräftigen Dusche. Während ich vor einer unverputzten Wand von Seepferdchen auf den Kacheln, von der englischen Keramik unseres alten Badezimmers träumte, geschah es, dass ich, ohne mich darum zu bemühen, Matilde vollkommen vor mir sah. Ich sah sie mit ihrem Körper einer Siebzehnjährigen unter dem warmen Wasserstrahl, sie warf die Haare nach hinten und schloss die Augen, damit keine Seife hineinkam. Ich sah sie in Dampf gehüllt vor mir, die schwarzen Augen inzwischen weit geöffnet, ich sah ihr stilles Lächeln auf den Lippen, ihre Art, die Schultern zu heben und mich mit dem Zeigefinger zu rufen, und ich glaubte sogar, sie riefe mich ins Jenseits. Ich erinnerte mich an die Bewegung ihres Körpers, wie sie sich an die Seepferdchen auf der Wand lehnte, das sanfte Wiegen ihrer Hüften, und plötzlich spürte ich in mir eine Kraft, wie ich sie seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Erstaunt sah ich mich an, in meinem alten Männerkörper regte sich ein Verlangen nach Matilde wie bei unserer ersten Begegnung, ich glaube, ich habe dir nie erzählt, wie ich sie bei der Totenmesse für Papa kennengelernt habe. Du damals neben mir musst meine Unruhe gemerkt haben, ich bin mir sogar sicher, dass du den Blick auf meinen Schritt gesenkt und gleich wieder ungläubig weggesehen hast. Und obwohl du von einer Menge Leute umringt warst, denn sogar der Vizepräsident der Republik kam dir sein Beileid aussprechen, hast du zwangsläufig deine künftige Schwiegertochter beobachtet. Die war die Dunkelste in der Reihe, und in ihrer Tracht der Marienkongregation war sie wirklich eine Provokation, sie sah fast obszön aus in ihrer frommen Verkleidung. Denn allein mit ihren Augen, ihren halb arabischen Augen, ließ Matilde auch die kleinste Bewegung ihres Körpers erkennen, das sanfte Wiegen ihrer Hüften, und ich musste schnellstens nach Hause, ich brauchte eine kühle Dusche. Und unter der Dusche betrachtete ich meinen zitternden Körper, aber jetzt gerade versagt mein Kopf, ich weiß nicht mehr, von welcher Dusche ich spreche. Ich habe so viele Erinnerungen und Erinnerungen an Erinnerungen an Erinnerungen, dass ich nicht mehr weiß, in welcher Gedächtnisschicht ich eben war. Auch nicht, ob ich sehr jung oder sehr alt war, ich weiß nur, dass ich mich fast ängstlich ansah und nicht verstand, warum mein Verlangen so stark war. Und ich hatte das absurde Gefühl, dass es der harte Schwanz meines Vaters war, den ich in der Hand hielt, aber es ist traurig, so allein gelassen zu werden, wenn man zur Decke spricht und vom Mumps Fieber hat. Du hast vergessen, mir einen Kuss zu geben, hast nicht mein Fieber gemessen, bist gegangen, ohne mein Schlaflied zu singen.

21
    Aber Sie haben wesentliche Episoden meines Lebens ausgelassen. Da Sie so oft weg sind, werden meine Erinnerungen, wenn Sie alles zusammenschreiben, ganz durcheinandergehen, nicht Hand und nicht Fuß haben. Man wird es für die Geschichte von einem Verrückten halten, wenn ich Ihnen erzähle, dass ich mitten in der Nacht ins Palace Hotel gestürmt bin, an die Tür des Franzosen geschlagen und mit verstellter Stimme »Polizei!« gerufen habe. Der Halunke hat mir aufgemacht, ohne Hemd, verschwitzt, mit klapperndem Unterkiefer, als hätte er gerade einen Malariaanfall. Und hinten im Raum, im roten Licht der
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