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Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)

Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)

Titel: Verdächtige Geliebte: Roman (German Edition)
Autoren: Keigo Higashino
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Sayoko. »Nicht dass sie noch Komplexe bekommt, weil ihre Mutter als Bardame arbeitet. Und uns wärst du eine große Hilfe«, fügte sie eilig hinzu.
    Misato war Yasukos einzige Tochter. Vor etwa fünf Jahren hatte Yasuko sich von ihrem Vater scheiden lassen, und seither lebten die beiden allein. Sayoko hätte ihr nicht zu sagen brauchen, dass es so nicht ewig weitergehen konnte. Einmal natürlich wegen Misato, aber Yasuko selbst wurde ja auch nicht jünger, und es stellte sich die Frage, wie lange sie noch im Klub arbeiten konnte. Letztlich brauchte sie nur einen Tag, um sich zu entscheiden. Im Nachtklub versuchte man nicht, sie zurückzuhalten, und wünschte ihr lediglich alles Gute. Anscheinend hatten sich auch andere schon Gedanken um die Zukunft der nicht mehr ganz jungen Bardame gemacht.
    Als Misato im vergangenen Frühjahr in die Mittelstufe gekommen war, hatten sie den Schulwechsel genutzt und waren in ihre jetzige Wohnung gezogen. Ihr früheres Apartment lag zu weit vom
Benten-tei
entfernt. Anders als bisher ging Yasuko nun frühmorgens zur Arbeit. Sie stand um sechs Uhr auf und fuhr um halb sieben mit dem Fahrrad los. Ein grünes Fahrrad.
    »War dieser Lehrer heute Morgen wieder hier?«, fragte Sayoko in einer Pause.
    »Ja. Er kommt doch jeden Tag, oder?« Yasuko beobachtete, wie Sayoko und ihr Mann sich verschwörerisch angrinsten.
    »Was ist denn jetzt wieder? Es ist wirklich schlimm mit euch!«
    »Wir meinen es doch nicht böse. Wir sind nur neulich darauf gekommen, dass dieser Lehrer wahrscheinlich in dich verknallt ist.«
    »Wie bitte?« Ihre Teeschale in der Hand, ließ Yasuko sich im Stuhl zurücksinken.
    »Du hattest doch gestern frei. Und was war? Der Herr Lehrer ist nicht aufgetaucht. Findest du es nicht komisch, dass er ausgerechnet an deinem freien Tag wegbleibt, wo er doch sonst immer kommt?«
    »Das war bestimmt ein Zufall.«
    »Glauben wir nicht.« Sayoko sah ihren Mann an.
    Yonazawa nickte lachend. »Sie sagt, das geht schon eine ganze Weile so. Wenn du freihast, kommt er nicht. Bisher habe ich es auch nicht geglaubt, aber gestern hat sie mich überzeugt.«
    »Außer an Feiertagen habe ich doch ganz unregelmäßig frei. An keinem bestimmten Wochentag.«
    »Um so verdächtiger. Er wohnt doch direkt neben dir. Wahrscheinlich beobachtet er, wann du zur Arbeit gehst, und kriegt raus, ob du freihast.«
    »Aber ich habe ihn noch nie getroffen, wenn ich aus dem Haus gegangen bin.«
    »Vielleicht beobachtet er dich von irgendwoher? Durchs Fenster vielleicht?«
    »Ich glaube nicht, dass er mich vom Fenster aus sehen kann.«
    »Ist doch auch egal. Wenn er Interesse hat, wird er schon irgendwann etwas sagen. Jedenfalls haben wir dir einen Stammkunden zu verdanken, Yasuko. Das macht die gute Ausbildung in Kinshicho«, sagte Yonazawa abschließend.
    Yasuko lächelte sarkastisch und trank ihren Tee aus. Sie dachte an den Lehrer.
    Er hieß Ishigami. Am Abend nach ihrem Einzug hatte sie beim ihm geläutet, um sich vorzustellen, und bei dieser Gelegenheit erfahren, dass er Lehrer war. Er war untersetzt und hatte ein großes, rundes Gesicht, wodurch seine Augen schmal wie Striche wirkten. Mit seinem kurzen, schütteren Haar sah er aus wie 50, obwohl er wahrscheinlich jünger war. Er schien nicht besonders auf sein Äußeres zu achten und war immer gleich angezogen. In diesem Winter trug er stets einen braunen Pullover und einen Mantel darüber. Dennoch schien er seine Sachen regelmäßig zu waschen, da sie bisweilen an einem Wäscheständer auf seinem kleinen Balkon hingen. Yasuko vermutete, dass er ledig war. Er wirkte nicht wie geschieden und auch nicht wie ein Witwer.
    Sie überlegte, wodurch sie sein Interesse erregt haben könnte, aber ihr fiel nichts ein. Der Mann war wie ein feiner Riss in der Wand für sie. Sie wusste, dass er existierte, achtete aber nie besonders auf ihn. Es lohnte sich nicht, sich Gedanken über ihn zu machen. Sie grüßten sich, wenn sie sich begegneten. Einmal hatten sie sich sogar über die Hausverwaltung unterhalten. Dennoch wusste Yasuko so gut wie nichts über diesen Mann. Erst vor kurzem hatte sie erfahren, dass er Mathematik unterrichtete, als sie nämlich zufällig vor seiner Wohnungstür einen mit einer Schnur zusammengebundenen Stapel alter Mathematikbücher gesehen hatte. Yasuko hoffte nicht, dass er sie um ein Rendezvous bitten würde. Der Gedankeentlockte ihr ein bitteres Lächeln. Erfolglos versuchte sie, sich das biedere Gesicht des Mannes vorzustellen, wenn er sie
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