Verdacht auf Mord
dass er sich damit begnügen würde.
»Bedauerlich«, schrie er. »Das war noch viel mehr als nur bedauerlich. Er hat mein Leben zerstört! Aber ich habe es ihm heimgezahlt«, fuhr er fort, und jetzt war seine Stimme versöhnlicher. »Und zwar gründlich, der Alte hat sich vor Schreck fast in die Hosen gemacht.«
Seine blutunterlaufenen Augen waren viel zu nahe. Dass sich ein Mensch so verwandeln kann, dachte sie. Von einer bleichen Memme in ein Gespenst.
»Das hat mir wirklich Spaß gemacht, ihn so verängstigt zu sehen. Ihn, der mir mein Zeugnis so versaut hat, dass ich nicht reinkam.«
»Wo denn?«
Sie konnte sich diese Frage nicht verkneifen.
»Du kapierst wirklich gar nichts.«
In dieser Hinsicht stimmte sie ihm zu und schwieg daher.
»Es stand fest, dass ich Arzt werden würde. Aber dann …«
Er beugte sich vor und schluchzte wie ein gekränktes Kleinkind.
»Aber du bist lieb«, sagte er plötzlich, legte ihr einen Arm um den Hals und drückte seine nassen Lippen auf ihre.
Fast hätte sie sich übergeben müssen, sie sprang auf, um zum Waschbecken zu laufen, aber er packte sie am Arm.
»O nein, jetzt wollen wir noch mal kuscheln.«
Er nahm sie fest in die Arme und presste sich an sie. Sie spürte seine Erektion. Das halte ich nicht noch mal durch, dachte sie. Sie stand stocksteif da wie ein Puppe. Er wurde wütend.
»Zeige mir, dass du mich wirklich liebst!«, sagte er und ließ sie los. Er trat einen Schritt zurück und sah sie auffordernd an.
Sie drehte sich blitzschnell um und rannte in die Diele und zur Haustür, aber er holte sie ein. Sie wand sich aus seinem Griff und rannte Richtung Waschküche. Aber auch jetzt war er schneller. Er packte sie an den Haaren und schlug ihren Kopf gegen die Wand, bis sie glaubte, dass sie bewusstlos werden würde. Dann packte er ihren Hals und drückte ihr den Kehlkopf zu, dass sie sich fast übergeben hätte. Sie rammte ihm ihr Knie zwischen die Beine, und er krümmte sich, gab den Weg zur Tür aber nicht frei. Sie kam nicht vorbei. Er richtete sich schwankend auf und sah sie hasserfüllt an. Dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht. Etwas knirschte. Ein unerträglicher Schmerz. Und da kam schon der nächste Schlag und noch einer.
Danach verlor sie das Bewusstsein.
Einundzwanzigstes Kapitel
Sonntag, 29. September
E s war nachmittags, Viertel vor drei. Hebammen und Schwestern saßen in Grüppchen um den länglichen Tisch herum und machten die Übergabe. Rigmor hatte niemanden, an die sie ihre Patienten übergeben konnte, denn Ester war noch nicht gekommen. Sie war schon eine Viertelstunde verspätet und hatte nicht angerufen.
Als eine weitere Dreiviertelstunde vergangen war, überlegten alle, wo Ester wohl abgeblieben sein konnte. Sie war auch auf ihrem Handy nicht zu erreichen.
»Als ich sie gestern getroffen habe, hat sie nichts gesagt«, teilte eine der jüngeren Hebammen mit. Sie versuchten es noch einige weitere Male auf ihrem Handy, jedoch ohne Erfolg. Sie überlegten, eine andere Hebamme zu bestellen, entschieden sich dann aber dafür, zu warten. Im Augenblick hatten sie nur drei Gebärende auf der Entbindungsstation, und damit wurden sie fertig.
»Seltsam«, meinte eine der Hebammen.
»Wieso?«
»Sie trennt sich gerade von ihrem Freund«, informierte Lotten.
»Das wusste ich nicht. Wieso denn?«
»Dumm gelaufen«, meinte Lotten.
Die Stunden vergingen. Erst um zehn war Feierabend. Die Ärztin im Bereitschaftsdienst, Annika Holt, wurde allerdings schon um sechs von Georgios Kapsis, dem stolzen und nicht gerade leisen Griechen der Klinik, abgelöst. Er würde die ganze Nacht arbeiten. Gustav Stjärne war zu seiner Unterstützung eingeteilt, was der Grieche nicht unbedingt als Entlastung empfand.
»Ich dachte, du hättest mit Christina Löfgren zusammen Bereitschaft?«, sagte Kapsis.
»Nein«, erwiderte Stjärne und schlug die Augen nieder.
Er wirkte ungewöhnlich erschöpft. Aschfahl im Gesicht, tiefe Ringe unter den Augen und Kratzspuren auf der einen Wange.
»Hat dich eine Katze gekratzt?«, spottete Lotten.
»Nein, ich bin mit dem Fahrrad hingefallen«, antwortete Stjärne.
»Ach so!«, meinte Kapsis. »Pech!«
Der Grieche verzog den Mund. Das sollte glauben, wer wollte.
Ein paar Stunden, nachdem die Ärzte ihren Dienst angetreten hatten, wurde es hektisch. Eine junge Frau wurde mit dem Krankenwagen eingeliefert. Ihr Blutdruck war kaum noch messbar. Sie lag vollkommen reglos da und hatte solche Schmerzen im Unterleib, dass man
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