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Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)

Titel: Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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waren seine fettigen, roten Hände mit den schwarzen Nägeln.
    Sein Gespräch schien eine allgemeine, wenn auch träge Aufmerksamkeit erregt zu haben. Die beiden Jungen hinter dem Schenktische begannen zu kichern. Der Wirt war wohl absichtlich aus dem oberen Zimmer gekommen, um den »lustigen Kerl« zu hören, er setzte sich abseits und gähnte träge, doch selbstbewußt. Marmeladow war hier offenbar bekannt. Auch seine Neigung für hochtrabende Redensarten hatte er sich wohl durch die Gewohnheit, in den Schenken mit Unbekannten zu sprechen, angeeignet. Diese Gewohnheit wird bei vielen Trinkern zu einem Bedürfnis, besonders bei solchen, die zu Hause streng behandelt werden und sich alles gefallen lassen müssen. Darum bemühen sie sich immer, in der Gesellschaft von Betrunkenen eine Rechtfertigung und, wenn möglich, auch Achtung zu gewinnen.
    »Ein komischer Kerl«, sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du aber nicht, warum sind Sie nicht im Dienst, wenn Sie Beamter sind?«
    »Warum ich nicht im Dienste bin, verehrter Herr?« fiel ihm Marmeladow ins Wort, sich ausschließlich an Raskolnikow wendend, als hätte dieser die Frage gestellt. »Warum ich nicht im Dienste bin? Tut mir denn nicht das Herz weh, daß ich mich müßig herumtreibe? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat eigenhändig meine Gattin verprügelte, tat mir das nicht weh? Gestatten Sie, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert ... hm ... nun, jemand hoffnungslos um eine Anleihe zu bitten?«
    »Das ist mir schon passiert ... das heißt, was verstehen Sie unter hoffnungslos?«
    »Das heißt völlig hoffnungslos, schon im voraus davon überzeugt, daß nichts daraus wird. Sie wissen zum Beispiel im voraus und ganz sicher, daß dieser Herr, dieser äußerst wohlgesinnte und äußerst nützliche Bürger Ihnen für nichts in der Welt Geld geben wird, denn ich frage Sie, warum soll er mir welches geben? Er weiß doch, daß ich es nicht zurückgeben werde. Aus Mitleid? Herr Lebesjatnikow, der die neuen Ideen verfolgt, hat neulich erklärt, daß das Mitleid in unserer Zeit von der Wissenschaft verboten sei und daß man sich in England, wo es die politische Ökonomie gibt, schon danach richte. Warum also, frage ich Sie, soll er geben? Und nun, trotzdem Sie im voraus wissen, daß er nichts geben wird, machen Sie sich dennoch auf den Weg und ...«
    »Warum soll man denn hingehen?« warf Raskolnikow ein.
    »Wenn man aber sonst keinen Menschen und keinen Ort weiß, um hinzugehen? Jeder Mensch muß doch einmal irgendwo hingehen können! Denn es gibt Zeiten, wo man unbedingt irgendwo hingehen muß? Als meine einzige Tochter zum ersten Male mit einem gelben Paß ausging, so ging ich auch ... (denn meine Tochter lebt mit einem gelben Paß ...)« fügte er in Klammern hinzu und blickte den jungen Mann mit einiger Unruhe an. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sofort und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Jungen hinter dem Schenktische zu lachen anfingen und auch der Wirt selbst lächelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln bringt mich nicht in Verlegenheit, denn alles ist allen bekannt, und alles Verborgene wird offenbar; ich trage es auch nicht mit Verachtung, sondern mit Demut. Sollen sie nur! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Erlauben Sie, junger Mann: können Sie ... Aber nein, ich will es stärker und eindringlicher aussprechen: nicht können Sie, sondern wagen Sie, wenn Sie mich jetzt anblicken, positiv zu erklären, daß ich kein Schwein bin?«
    Der junge Mann erwiderte kein Wort.
    »Nun«, fuhr der Redner solid und sogar mit gehobenem Selbstbewußtsein fort, nachdem er abgewartet hatte, daß das Kichern im Zimmer verstumme. »Nun, mag ich ein Schwein, mag sie eine Dame sein. Ich habe die Gestalt eines Tieres, aber Katerina Iwanowna, meine Gattin, ist eine gebildete Person und eine geborene Stabsoffizierstochter. Mag ich ein Schuft sein, mag sie von Großmut und von Gefühlen, die durch die Erziehung veredelt sind, erfüllt sein. Und doch ... oh, wenn sie mit mir doch Mitleid hätte! Sehr verehrter Herr, sehr verehrter Herr, jeder Mensch müßte doch einen Ort haben, wo man mit ihm Mitleid hätte! Katerina Iwanowna ist aber wohl eine großmütige, doch ungerechte Dame. Und obwohl ich auch selbst einsehe, daß sie, wenn sie mich an den Haaren herumzerrt, es doch nur aus herzlichem Mitleid tut, denn sie zerrt mich, ich wiederhole es ohne Scham, an den Haaren herum, junger Mann!« – (versicherte er mit unterstrichener
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