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Titel: Upload
Autoren: Cory Doctorow
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als auf diesem Dach passieren.
    Das Problem ist nur, dass die Tür zum Dach –
    ich habe sie aufgestemmt, nachdem ich meinen Wärtern entwischt und die als Fluchtweg vorgese-hene Treppe hoch geschlichen war – inzwischen zugefallen ist. Der kleine Haufen Kieselsteine, den 44
    ich als Keil vor der Tür aufgeschichtet hatte, ist jetzt ringsum verstreut. Die Tür ist fest verschlossen. Und ich habe mein Komset nicht dabei. Typisch für mich. Also beginne ich mit einer persönlichen Bestandsaufnahme: Ich verfüge über einen Bleistift, ein Krankenhaushemd, ein Paar Boxershorts und einen Kopf voller blödsinniger Ideen.
    Ich befinde mich rund 150 Meter über der feucht-warmen, grünen Sommerlandschaft von Massachusetts. Es ist sehr heiß, und ich nehme allmählich die Farbe der Barbie-Abteilung im New Yorker Spielzeugkaufhaus FAO Schwarz an – die Art von labialem Rosa, die den Augen wehtut und gleichzeitig auf perverse Weise aufmuntert.
    Ich habe mein Leben damit verbracht, mich durch die Hintertür irgendwo einzuschleichen und durch die Nebentür wieder zu verschwinden.
    So macht man das heutzutage. Wenn sich der Job innerhalb von zwei Jahren in etwas verwandelt, das vor vierundzwanzig Monaten noch unvorstell-bar gewesen wäre, ist es nicht unbedingt zweckmäßig, die Vordertür zu nehmen. Nicht unbedingt zweckmäßig, einen ordentlichen Abschluss zu machen, eine Zulassung mit Brief und Siegel zu erwerben und entsprechende Erfahrungen zu sammeln. Soll heißen: Selbst wenn man die Universität besucht, ist ein sinnvoller, aussichtsrei-cher Studienabschluss nur dann gewährleistet, wenn man ihn in einem Fach macht, das bei der 45
    Immatrikulation noch gar nicht erfunden war.
    Deshalb verstehe ich mich so gut auf Hintertüren und Nebeneingänge. Das ist es, was der Stamm für mich leistet – er verschafft mir Zugang zu Orten, wo ich eigentlich gar nicht hingehöre. Man muss ihnen sowieso dankbar sein: Ohne die Stämme wäre niemand zu irgendetwas qualifiziert, das die Mühe lohnt.
    Durch den Nebeneingang zu verschwinden ist mir heute allerdings schlecht bekommen.
    Oh, Scheiße. Über die Dachkante werfe ich einen Blick auf den Parkplatz, der nur spärlich be-legt ist. Das Wetter ist so schön, dass kaum einer da draußen in der realen Welt Lust hat, seine verrückten Verwandten zu besuchen. Ein halbes Dutzend Wochentagskutschen sind da unten geparkt, Methan-Atmer, von den SÖZlern auch Furzmobile genannt. In jener verhängnisvollen Nacht, als mir Linda in London vor den Wagen gelaufen ist, habe ich eine ganz ähnliche Kiste gefahren. Da fällt mir ein, dass ich bei meiner Inventur etwas vergessen habe: Kieselsteine. Das Dach ist mit runden grauen Flusskieseln übersät, die ungefähr so groß wie Wasabi-Erbsen sind. Niemand da unten wird mich hier auf dem Dach bemerken. Höchstens, wenn ich auf mich aufmerksam mache. Ein paar einge-worfene Windschutzscheiben dürften reichen.
    An der Dachkante sammle ich ein paar Steine und ziele sorgfältig, denn ich muss vorsichtig vor-46
    gehen. Achtsam. Ein Kieselstein, der aus dieser Höhe herunterfällt … Ich erinnere mich noch an die Geschichte über den Penny, der von der Spitze des Funk- und Fernsehturms in Toronto fiel und unten ein fünfzehn Zentimeter tiefes Loch in den Asphalt riss.
    Also wähle ich einen kleinen Kieselstein, ziele sorgfältig auf die Windschutzscheibe eines kleinen blauen Sony Veddic und schleudere den Kiesel nach unten. Ich kann den Flug des Steins nur ein paar Sekunden lang verfolgen, dann ver-schmilzt er mit dem Hintergrund der Landschaft.
    Allerdings gibt die Flugbahn, die ich beobachten konnte, nicht gerade Anlass zu irgendwelchen Hoffnungen; der Wind treibt den Kiesel in einer fast horizontalen Parabel in die Richtung von Boston. Unter Missachtung aller Newtonschen Gesetze schleudere ich den nächsten Kiesel einfach nach unten, doch er verschwindet genau wie der Erste im Niemandsland und die Windschutzscheiben bleiben heil und ganz. Schließlich mache ich mich auf die Suche nach größeren Steinen.
    Kennen Sie diese Art von Horrorfilmen, in denen sich die Spannung ständig weiter steigert, doch in regelmäßigen Abständen auch wieder löst? Und zwar dann, wenn jemand plötzlich irgendwo herausspringt und laut buh! ruft. Daraufhin müssen die Helden natürlich fliehen, mitten hinein in noch schlimmere Gefahren. Abermals 47
    steigt die Spannung, wächst und wächst … Wissen Sie, wie es ist, wenn der Regisseur nicht weiß, wann er aufhören
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