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Unterwirf dich

Unterwirf dich

Titel: Unterwirf dich
Autoren: Molly Weatherfield
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gemacht, dass du ein Jahr brauchst, um die Arbeit in Form zu bringen. Sie ist allerdings auch gut.«
    Das stimmte. Und mir hatte es Spaß gemacht, meine Meinung einzubringen und mit ihm darüber zu diskutieren. Er würde mir fehlen. Ich schlang die Arme um ihn, er drückte mich an sich.
    »Und was tun wir heute Nachmittag?«, fragte ich. Wir hatten einen Tisch für ein schickes Abschiedsessen reserviert, später wollten wir in irgendwelche Clubs, von denen er gehört hatte, tanzen gehen.
    »Ich brauche Notizbücher«, sagte er. »Sexy französisches Briefpapier. Einen guten Waterman-Füller. Immerhin sind wir hier in der Weltstadt der Büroausstattung.«
    Wir gaben in der papeterie mehr Geld aus als im Restaurant an jenem Abend. Und ich weinte, als er mich früh am nächsten Morgen auf dem Bahnsteig zum Abschied küsste. Als der Zug sich jedoch langsam füllte, merkte ich, dass ich mich eigentlich ganz gut fühlte. Ich zog eines der neuen Notizbücher heraus und den Waterman-Füller, die ich ebenfalls erstanden hatte. Und das Buch, das ich gerade las. Ich wollte mir einige Wörter notieren, deren Verwendung im achtzehnten Jahrhundert mir nicht ganz klar war. Fünf Tage mit Stuart hatten in mir einige meiner pedantischen Angewohnheiten wieder geweckt.
    Es war ein interessantes Buch. Clarissa von Samuel Richardson. Alle vier Bände und zweitausend ungekürzte Seiten, die jemand in Mr. Constants Bibliothek zurückgelassen hatte. Ich hätte die Lektüre wahrscheinlich gar nicht begonnen, wenn ich es nicht so leid gewesen wäre, ständig ganze Stapel loser Blätter zu lesen. Jetzt war ich froh, dass ich es mitgenommen hatte. Ich versank immer tiefer in die Erzählung aus weiblicher und männlicher Sicht, deren männliche Stimme ein Gruselkabinett narzisstischer Projektionen war.
    Ich frühstückte im Speisewagen, die Nase immer noch in Band vier, und stolperte zu meinem Sitz zurück, wobei ich die offene Aktentasche des Mannes neben mir umwarf. Eine englische Übersetzung von de Sades Justine rutschte heraus und ein Stapel Notizbücher. Ich murmelte eine Entschuldigung, als er hastig alles einsammelte und mehrmals wiederholte, es sei »kein Problem«.
    »Ist das ein gutes Buch?«, fragte er auf Englisch. Er war Amerikaner. Vielleicht ein Student. Ich war unsicher, ob ich mich überhaupt unterhalten wollte. Andererseits würde ich mit jedem reden, der mir zuhörte – die letzten Tage mit Stuart hatten mir gezeigt, wie ausgehungert ich nach Reden war. Der arme Junge, dachte ich, wandte mich ihm zu und holte tief Luft. Da versucht er, eine clevere Eröffnung zu machen, und bekommt dafür einen Vortrag über Samuel Richardson und die Dekonstruktion der Geschlechter. Ganz schön hart, dachte ich. Aber er hatte es nicht anders gewollt.
    Er hörte mir jedoch aufmerksam zu und stellte sogar ein paar sehr gute Fragen. Er hatte noch nicht viel gelesen, konnte aber logisch denken und zwang mich dazu, aufrichtig zu bleiben.
    »Und die weibliche Stimme?«, fragte er. »Warum ist sie so vernünftig?«
    Ich runzelte die Stirn. »Na ja«, sagte ich langsam. »Richardson hätte eine religiöse Antwort gegeben. Aber ich würde eher das Gegenteil sagen. Ich glaube, sie lässt schon eine Art moderner, säkularer Autonomie ahnen. Zwar konnte sie rechtlich nichts allein entscheiden, aber ihren Körper und ihre Seele hat sie immer allein besessen. Daran besteht kein Zweifel.
    Und ich glaube, weil sie so vernünftig und bodenständig war, hat sie den Marquis de Sade wütend gemacht«, fügte ich hinzu. »Als er sie in Justine parodierte« – ich nickte zu seiner Aktentasche hin – »verlieh er ihrer Stimme, wie beim großen bösen Wolf in Rotkäppchen, eine Art moralisches Falsett. Er machte sie zu einem ganz braven, naiven Mädchen. Und – dies war ein kluger, dekonstruktiver Schachzug – er gab ihr eine narzisstische Ader. Justine gehorcht mehr um des Effekts als um ihrer selbst willen oder um andere zu retten. Es überwältigt sie, ein braves Mädchen zu sein – sie ist ebenso wie Mr. Lovelace bei Richardson süchtig nach Bewunderung.«
    Und das konnte ich gut verstehen, dachte ich. Aber ich scheine auch eine Affinität für Beherrschungsfabeln zu haben, die die die dunkle Seite der Bedeutung materieller, autonomer und individueller Existenz ansprechen und die hin und her schwanken zwischen Richardsons unmöglicher Frömmigkeit und de Sades gleichermaßen unmöglichem Tableau totaler Befriedigung. Auf einmal merkte ich, dass ich schon
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