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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
Autoren: Gerd Ruge
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achtete, ebenfalls mit freundlichem Respekt behandelt. In einem der Zeugnisse hieß es bezeichnenderweise: »Gerd ist höflich, aber unzugänglich.«
    Es machte mir keinen Spaß, die aktuellen politisch gefärbten Romane über Weltkrieg und nationalen Freiheitskampf zu lesen. Die einzige Lehrerin, die aus der Gründungszeit in der Schule verblieben war, machte mich zum Glück auf einige Bücher in den obersten Regalen der Bibliothek aufmerksam. Und so entdeckte ich nicht nur Emil und die Detektive , sondern auch andere Bände aus der Zeit vor 1933 und die Lust am Lesen überhaupt. Später kamen auch Gedichte hinzu. Ich war dreizehn oder vierzehn Jahre alt, als ich manchmal zusammen mit einigen anderen Schülern Lyrik las – allerdings nicht die offiziell gefeierte von Hanns Johst oder Hans Baumann, sondern den »Cornet« von Rilke oder »Der Tor und der Tod« von Hofmannsthal.
    Es gab einige Lehrer, deren Gehabe mich ärgerte, aber auch andere, deren frische und lebhafte Art mir gut gefiel. Zwei Kunstlehrerinnen bewunderte ich sehr. Ich liebte es, wenn sie nachmittags oder abends nach dem Unterricht mit mir über die Bilder sprachen, die ich während der Zeichenstunde gemalt hatte. Beide waren vor 1933 erfolgreiche freie Künstlerinnen gewesen. Was sie mir außerhalb des Unterrichts zeigten, war eine Kunst, die von den Nazis als »entartet« abgestempelt wurde: Picasso, Nolde, Barlach, Rohlfs. Ohne ein Wort über die heroische, militaristische Kunst des Dritten Reichs oder über Politik im Allgemeinen zu verlieren, gaben sie mir ihren Widerwillen gegen das NS -System zu erkennen. Als Dreizehnjähriger beeindruckte mich solch unausgesprochener Widerstand. Aber offene politische Opposition, so viel begriff ich nun, konnte man von ihnen nicht erwarten oder erlernen, nur eine Haltung eindeutiger Ablehnung.
    Als älterer Schüler hatte ich den Auftrag, mich um die Schüler aus den beiden Unterklassen zu kümmern – mit dem Titel »Kornett«, in dem gewissermaßen ein Anflug von Disziplin und Rilke mitschwang. Wenn die »Kleinen« zu Bett gebracht waren, unterhielt ich mich oft mit zwei Frauen, die als Erzieherinnen diese Gruppe der jüngsten Schüler betreuten. Sie sprachen mit mir offener über den politischen und geistigen Zwang durch den Nationalsozialismus. Eine der beiden hat später bis zum Ende des Kriegs die Mutter von Christoph Probst, einem der hingerichteten Studenten der Weißen Rose, betreut, von der anderen erfuhr ich mehr als zwanzig Jahre danach, dass ihre Mutter jüdische Schulkinder und Familien vor den Nazis gerettet hatte und heute in Yad Vashem von den Israelis als »Gerechte unter den Völkern« geehrt wird. Ihr Sohn wiederum hatte sich geweigert, Offizier zu werden, war einem Todesurteil knapp entkommen und in einem Strafbataillon gefallen. Manchmal erwähnten die beiden Frauen in knappen Worten auch, dass Juden in Deutschland »abgeholt« und in Lager gesteckt würden. Als ich die Jüngere einmal bei ihrer Mutter in Hamburg besuchte, schnappte ich eine verstörende Bemerkung auf. Die Mutter erzählte von einer Hamburger Schriftstellerin, einer Jüdin, die zwei Tage vorher abgeholt worden sei. »Wohin?«, fragte die Tochter. »Nach Theresienstadt«, war die Antwort. Daraufhin die Tochter: »Gott sei Dank, das ist ja nicht das Schlimmste.« Ein paar Tage zuvor hatte sie im Gespräch mit mir erwähnt, dass Juden aus Deutschland zwangsweise in ein Ghetto in der Tschechoslowakei umgesiedelt würden, nach Theresienstadt. Als ich nun fragte, was es denn noch Schlimmeres gebe, bekam ich keine Antwort mehr. Erst später verstand ich, dass sie mich und sich vor unvorsichtigen Bemerkungen schützen wollte – so wie im Sommer 1943 , als sie mich in Hamburg unerwartet anrief: »Die Amerikaner sind auf Sizilien gelandet.« Ich antwortete, ohne nachzudenken: »Gott sei Dank, endlich.« – »Ja, endlich, jetzt können unsere Soldaten sie schlagen und vernichten«, gab sie geistesgegenwärtig zurück. Anders als mir war ihr die Gefahr, von der Gestapo abgehört zu werden, immer bewusst.
    Mitunter spotteten wir über Lehrer, die sich allzu bieder an die offiziell vorgegebene Linie hielten. Einer war Mitglied der SA und trug eine Uniform mit einer steifen Mütze, die wir Pappendeckel nannten. Spätabends kam er manchmal schwankend und Marschlieder singend von Versammlungen im Nachbarort zurück. Dass er ein richtiger Nazi war, schien mir allerdings nicht ganz sicher, denn immerhin las er uns gelegentlich auch
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