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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad
Autoren: Hermann Hesse
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durch die schmale Klosterpforte des Seminars einzugehen. Eben hatte er seinen
    Abschiedsbesuch beim Rektor gemacht. »Heute abend«, sagte zum Schluß der gefürchtete
    Herrscher mit ungewöhnlicher Milde, »darfst du nichts mehr arbeiten. Versprich es mir. Du mußt morgen absolut frisch in Stuttgart antreten. Geh noch eine Stunde spazieren und nachher beizeiten zu Bett. Junge Leute müssen ihren Schlaf haben.« Hans war erstaunt, statt der gefürchteten Menge von Ratschlägen so viel Wohlwollen zu erleben, und trat aufatmend aus dem Schulhaus. Die großen Kirchberglinden glänzten matt im heißen Sonnenlicht des
    Spätnachmittags, auf dem Marktplatz plätscherten und blinkten beide große Brunnen, über die unregelmäßige Linie der Dächerflucht schauten die nahen, blauschwarzen Tannenberge herein.
    Dem Buben war so, als hätte er das alles schon eine lange Zeit nicht mehr gesehen, und es kam ihm alles ungewöhnlich schön und verlockend vor. Zwar hatte er Kopfweh, aber heute brauchte er ja nichts mehr zu lernen. Langsam schlenderte er über den Marktplatz, am alten Rathaus vorüber, durch die Marktgasse und an der Messerschmiede vorbei zur alten Brücke. Dort
    bummelte er eine Weile auf und ab und setzte sich schließlich auf die breite Brüstung. Wochen -
    und monatelang war er Tag für Tag seine viermal hier vorbeigegangen und hatte keinen Blick für die kleine gotische Brückenkapelle gehabt, noch für den Fluß, noch für die Stellfalle, Wehr und Mühle, nicht einmal für die Badwiese und für die weidenbestandenen Ufer, an denen ein
    Gerberplatz neben dem anderen lag, wo der Fluß tief, grün und still wie ein See stand und wo die gebogenen, spitzen Weidenäste bis ins Wasser hinabhingen.
    Nun fiel ihm wieder ein, wieviel halbe und ganze Tage er hier verbracht, wie oft er hier geschwommen und getaucht und gerudert und geangelt hatte. Ach, das Angeln! Das hatte er nun auch fast verlernt und vergessen, und im vergangenen Jahr hatte er so bitterlich geheult, als es ihm verboten worden war, der Examensarbeit wegen. Das Angeln! Das war doch das Schönste in all den langen Schuljahren gewesen. Das Stehen im dünnen Weidenschatten, das nahe Rauschen der Mühlenwehre, das tiefe, ruhige Wasser! Und das Lichterspiel auf dem Fluß, das sanfte Schwanken der langen Angelrute, die Aufregung beim Anbeißen und Ziehen und die eigentümliche Freude, wenn man einen kühlen, feisten, schwänzelnden Fisch in der Hand hielt!
    Er hatte doch manchen saftigen Karpfen herausgezogen, und Weißfische und Barben, auch von den delikaten Schleien und von den kleinen, schönfarbigen Elritzen. Lange blickte er über das Wasser, und beim Anblick des ganzen grünen Flußwinkels wurde er nachdenklich und traurig und fühlte die schönen, freien, verwilderten Knabenfreuden so weit dahinten liegen. Mechanisch zog er ein Stück Brot aus der Tasche, formte große und kleine Kugeln daraus, warf sie ins Wasser und beobachtete, wie sie sanken und von den Fischen erschnappt wurden. Zuerst kamen die winzigen Goldfallen und Blecken, fraßen die kleineren Stücke begierig auf und stießen die großen mit hungrigen Schnauzen im Zickzack vor sich her. Dann näherte sich langsam und vorsichtig ein größerer Weißfisch, dessen dunkler, breiter Rücken sich schwach vom Grunde abhob, umsegelte die Brotkugel bedächtig und ließ sie dann im plötzlich geöffneten runden Maul verschwinden.
    Vom trägfließenden Wasser kam ein feuchtwarmer Duft herauf, ein paar helle Wolken spiegelten sich undeutlich in der grünen Fläche, in der Mühle ächzte die Kreissäge, und beide Wehre rauschten kühl und tieftönig ineinander. Der Knabe dachte an den Konfirmationssonntag, der kürzlich gewesen war und an dem er sich dabei ertappt hatte, daß er mitten in der Feierlichkeit und Rührung innerlich ein griechisches Verbum memorierte. Auch sonst war es ihm in letzter Zeit oft so gegangen, daß er seine Gedanken durcheinander brachte und auch in der Schule statt an die vor ihm liegende Arbeit stets an die vorhergegangene oder an eine spätere dachte.
    Das Examen konnte ja gut werden!
    Zerstreut erhob er sich von seinem Sitz und war unschlüssig, wohin er gehen sollte. Er erschrak heftig, als eine kräftige Hand ihn an der Schulter faßte und eine freundliche Männerstimme ihn anredete.
    »Grüß Gott, Hans, gehst ein Stück mit mir?« Das war der Schuhmachermeister Flaig, bei dem er früher zuweilen eine Abendstunde verbracht hatte, jetzt aber schon lang keine mehr. Hans ging
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