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Unterm Rad

Unterm Rad

Titel: Unterm Rad
Autoren: Hermann Hesse
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Schoß die Prüfung vor sich geht.
    Hans Giebenrath war der einzige Kandidat, den das Städtlein zum peinlichen Wettbewerb zu entsenden dachte. Die Ehre war groß, doch hatte er sie keineswegs umsonst. An die
    Schulstunden, die täglich bis vier Uhr dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der Woche fand nach dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim Mathematiklehrer statt. Im Griechischen wurde nächst den
    unregelmäßigen Zeitwörtern
    hauptsächlich auf
    die
    in den Partikeln
    auszudrückende
    Mannigfaltigkeit der Satzverknüpfungen Wert gelegt, im Latein galt es klar und knapp im Stil zu sein und namentlich die vielen prosodischen Feinheiten zu kennen, in der Mathematik wurde der Hauptnachdruck auf komplizierte Schlußrechnungen gelegt. Dieselben seien, wie der Lehrer häufig betonte, zwar scheinbar ohne Wert fürs spätere Studium und Leben, jedoch eben nur scheinbar. In Wirklichkeit waren sie sehr wichtig, ja wichtiger als manche Hauptfächer, denn sie bilden die logischen Fähigkeiten aus und sind die Grundlage alles klaren, nüchternen und erfolgreichen Denkens. Damit jedoch keine geistige Überlastung eintrete und damit nicht etwa über den Verstandesübungen das Gemüt vergessen werde und verdorre, durfte Hans jeden
    Morgen, eine Stunde vor Schulbeginn, den Konfirmandenunterricht besuchen, wo aus dem
    Brenzischen Katechismus und aus dem anregenden Auswendiglernen und Aufsagen der Fragen
    und Antworten ein erfrischender Hauch religiösen Lebens in die jugendlichen Seelen drang.
    Leider verkümmerte er sich diese erquickenden Stunden selbst und beraubte sich ihres Segens.
    Er legte nämlich heimlicherweise beschriebene Zettel in seinen Katechismus, griechische und lateinische Vokabeln oder Übungsstücke, und beschäftigte sich fast die ganze Stunde mit diesen weltlichen Wissenschaften. Doch war immerhin sein Gewissen nicht so abgestumpft, daß er dabei nicht fortwährend eine peinliche Unsicherheit und ein leises Angstgefühl empfunden hätte. Wenn der Dekan in seine Nähe trat oder gar seinen Namen rief, zuckte er jedesmal scheu zusammen, und wenn er eine Antwort geben mußte, hatte er Schweiß auf der Stirn und
    Herzklopfen. Die Antworten aber waren tadellos richtig, auch in der Aussprache, und darauf gab der Dekan viel. Die Aufgaben, zum Schreiben oder zum Auswendiglernen, zum Repetieren und Präparieren, die sich tagsüber von Lektion zu Lektion ansammelten, konnten dann am späten Abend bei traulichem Lampenlicht zu Hause erledigt werden. Dieses stille, vom häuslichen Frieden segensreich umhegte Arbeiten, dem der Klassenlehrer eine besonders tiefe und
    fördernde Wirkung zusprach, dauerte dienstags und samstags gewöhnlich nur etwa bis zehn Uhr, sonst aber bis elf, bis zwölf und gelegentlich noch darüber. Der Vater grollte ein wenig über den maßlosen Ölverbrauch, sah dies Studieren aber doch mit wohlgefälligem Stolze an. Für etwaige Mußestunden und für die Sonntage, die ja den siebenten Teil unseres Lebens
    ausmachen, wäre die Lektüre einiger in der Schule nicht gelesener Autoren und Repetieren der Grammatik dringend empfohlen. »Natürlich mit Maß, mit Maß! Ein-, zweimal in der Woche
    Spazierengehen ist notwendig und tut Wunder. Bei schönem Wetter kann man ja auch ein Buch mit ins Freie nehmen - du wirst sehen, wie leicht und fröhlich es sich in der frischen Luft draußen lernen läßt. Überhaupt Kopf hoch!« Hans hielt also nach Möglichkeit den Kopf hoch, benützte von nun an auch die Spaziergänge zum Lernen und lief still und verscheucht mit übernächtigtem Gesicht und blaurandigen, müden Augen herum.
    »Was halten Sie von Giebenrath; er wird doch durchkommen?« sagte der Klassenlehrer einmal zum Rektor. »Er wird, er wird«, jauchzte der Rektor. »Das ist einer von den ganz Gescheiten; sehen Sie ihn nur an, er sieht ja direkt vergeistigt aus.«
    In den letzten acht Tagen war die Vergeistigung eklatant geworden. In dem hübschen, zarten Knabengesicht brannten tiefliegende, unruhige Augen mit trüber Glut, auf der schönen Stirn zuckten feine, Geist verratende Falten, und die ohnehin dünnen und hageren Arme und Hände hingen mit einer müden Grazie herab, die an Botticelli erinnerte. Es war nun soweit. Morgen früh sollte er mit seinem Vater nach Stuttgart fahren und dort im Landexamen zeigen, ob er würdig sei,
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