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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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Zeichen, dass er fortfahren dürfe.
    »Ich habe meine Schwester nicht ermordet. Ich habe sie über alles geliebt. Und meine Eltern auch. Wir haben einen Fehler gemacht – wir hätten sie nicht verheiraten dürfen. Ich weiß das. Jetzt ist es zu spät. Aber es ist nicht zu spät, den wahren Täter zu fassen.« Er fasste sich an den Hals. Als ob er sich daran erinnerte, wie seine Schwester umgekommen war, dachte Ruth.
    Aras Demizgül sprach jetzt wieder mit lauter und selbstbewusster Stimme. »Ich weiß, wer Derya getötet hat.«
    A NKARA,
EIN M ITTWOCH IM F EBRUAR, SIEBZEHN U HR
    Sergul hatte den Brief noch immer zusammengeknüllt in ihrer rechten Hand. Sie lag quer über dem Bett und starrte an die Decke. Sie konnte nicht. Sie konnte nicht hingehen. Sie war außer Stande gewesen, sich dem zu stellen. Die Vorstellung, auf der Wache zu erscheinen und zu erzählen, was geschehen war, brachte sie an den Rand der Verzweiflung. Sie hätte ohnehin ihren Vater darüber informieren müssen, dass das Einschreiben gekommen war und sie zu einem Termin gebeten wurde. Heute, genau genommen vor einer Stunde. Er hätte ihr einen Anwalt zur Seite gestellt und verlangt, dass sie sich dort meldete.
    Obwohl er die Sache selber regeln wollte. Sergul mochte sich nicht fragen, was das bedeutete. Die Männer regelten alles untereinander, aber es war besser, man wusste nicht, wie das aussah. Da hielt sie es wie ihre Mutter. Die hatte in den dreißig Jahren Ehe mit Papa Bozan die Augen fest verschlossen gehalten.
    Sergul dachte immer wieder daran, wie ihr Vater die Sache mit Navid damals geregelt hatte. Dem Jungen, mit dem sie durchgebrannt war. Sie hatte ihn nie mehr wiedergesehen. Niemand hatte ihn jemals gesehen. Seine Familie war plötzlich weggezogen. Auch diese hatte danach niemand mehr gesehen. Ausgelöscht. Es gab sie nicht mehr.
    Als Zinar im letzten Sommer vor ihrer Tür gestanden hatte, mit den Flugtickets nach Berlin, da hatte sie gewusst, dass das keine gute Idee war. Keine gute Idee, gar keine gute Idee. Keine, keine, keine …
    Die Faust um das Papier gekrallt, drehte sich Sergul jetzt auf die Seite und krümmte sich zusammen. »Nur einen Besuch«, hatte Zinar fröhlich gesagt. »Nur einen Besuch, ich will wissen, wie sie lebt.« Damals hatte sie gezögert. Sie hatte alles getan, um Zinar zum Bleiben zu überreden. Schließlich hatte Derya ihr im Sommer, nach dem Fest in Akalin, erzählt, wie Zinar sie im Flur abgefangen und gewürgt hatte. Er hatte sie als Hure beschimpft und sie bedroht.
    Sergul kannte ihren Bruder gut genug, um zu wissen, dass dieser Besuch in Berlin nicht gut verlaufen würde. Aber sie hatte schließlich eingewilligt mitzufahren, weil sie gehofft hatte, dass sie ihn kontrollieren konnte. Ihn vor etwas Schlimmem bewahren. Es war ihr nicht gelungen.
    Er hatte Schlimmes getan.
    Sie hatte ihn nicht bewahrt und auch nicht Derya.
    Sie war unfähig gewesen, Derya vor ihm zu retten.
    Zwei lange Tage waren sie Derya gefolgt. Sergul wollte sich Derya zu erkennen geben, sich ihr zeigen, sie begrüßen. Aber Zinar hatte sie immer wieder davon abgehalten, er war stark. Er hatte gesagt, er wolle nur noch ein bisschen mehr wissen, aber dann ... Dann würde er sich seiner Braut zeigen.
    Und er hatte sich ihr gezeigt.
    Sergul krümmte sich noch weiter zusammen, ihre Knie berührten die Nase, ihr Magen krampfte, sie begann zu zittern. Sie konnte nicht aufhören, an das Bild zu denken. Sie wollte Derya zu Hilfe kommen, doch sie konnte sich vor Angst nicht rühren. Derya hatte sich gewehrt. Aber Zinar kannte keine Gnade. Er war schon als kleines Kind immer dabei gewesen, wenn die Männer Ziegen schlachteten. Oder Hühner. Ihr, Sergul, war immer schlecht geworden, aber Zinar, der kaum auf seinen Beinchen stehen konnte, war in den Stall gelaufen und hatte vorfreudig gekreischt. Später, als Junge, hatte er den Job übernehmen dürfen.
    Ein Fehler, wie Sergul wusste. Ihr Bruder war nicht ganz richtig im Kopf. Er war langsam. Und dabei böse. Papa hatte gedacht, dass er ihm eine Freude machen konnte, wenn er ihn eine Tätigkeit ausführen ließ, die der dumme kleine Junge gut konnte. Er hatte zu Mama gesagt, es stärke das Selbstbewusstsein von Zinar. Mama hatte kein gutes Gefühl dabei gehabt, wenn ihr Junge in den Stall ging, aber Papa hatte gesagt: »Lass ihn. Er kann das gut. Es gefällt ihm.«
    Ja, es gefällt ihm. Sergul hatte gesehen, wie gut es ihm gefiel.
    Sie würgte, aber es kam nichts mehr. Sie hatte sich in den
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