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Unschuldslamm

Unschuldslamm

Titel: Unschuldslamm
Autoren: Judith Arendt
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schwieg.
    »Wissen Sie keine Antwort, oder möchten Sie es uns nicht sagen?«, hakte die Karst nach.
    Ruth hielt die Luft an. Im Saal war es totenstill.
    »Ich frage Sie noch einmal: Was wäre gewesen, wenn Ihre Schwester mit einem anderen geschlafen hätte, vor der Hochzeit in Anatolien?«
    »Es hätte keine Hochzeit gegeben.« Die Antwort kam leise. Aber alle hatten sie gehört.
    Veronika Karst betrachtete den jungen Mann. In ihrem Blick lag Wärme. Aber kein Mitleid. »Bitte erzählen Sie uns, warum Derya verheiratet werden sollte.«
    Aras sah seine Mutter an, die daraufhin kurz nickte. Auch der Verteidiger nickte seinem Mandanten auffordernd zu.
    »Es gibt ein großes Staudammprojekt dort unten. Es ist eine arme Region. Die Leute haben nichts, viele sind in die Städte gezogen. Der Bau des Staudamms bringt Arbeitsplätze. Mein Vater, unsere Familie, gehört einem Stamm an. Die meisten Menschen unseres Clans sind arm, ohne Arbeit. Sie hoffen auf Beschäftigung bei dem Projekt. Damit sie existieren können. Mein Vater hat also Verhandlungen geführt.« Er nahm einen Schluck Wasser, bevor er fortfuhr. »Mit Bozan Kara. Er ist Bauunternehmer. Er bestimmt, wer Arbeit bekommt und wer nicht. Und er hat einen Sohn.«
    Im Saal war Bewegung, die Leute flüsterten miteinander, die Journalisten machten eifrig Notizen.
    Der junge Angeklagte wusste, dass alle im Saal verstanden hatten, warum die Demizgüls ihre Tochter verheiraten wollten. Und was die Zuschauer darüber dachten. Als könnte er das Geschäft mit dem jungen Mädchen entschuldigen, fügte er hinzu: »Es ist bei uns alte Sitte, dass die Eltern die Kinder verheiraten. So, wie es am besten ist. Für alle.«
    »Glauben Sie, es war das Beste für Derya, in Südostanatolien mit einem Mann verheiratet zu werden, den sie nicht kannte? Damit Menschen, die sie ebenfalls nicht kannte, Arbeit bekämen?« Veronika Karst hatte sich vorgebeugt, ihre Stimme war eindringlich, und sie fixierte Aras Demizgül mit ihrem Blick.
    Der stolze junge Kurde, der so selbstbewusst aufgetreten war, in seinem frischen weißen Hemd und mit den rosigen Wangen, ließ die Schultern hängen. Sein Blick wurde stumpf, und seine Stimme zitterte. »Ich hatte es eingesehen … Ich konnte verstehen, warum. Meine Eltern – sie sind auch so zusammengekommen. Und sie lieben sich sehr. Es hätte funktionieren können.«
    »Uns liegt Deryas E-Mail-Verkehr vor, ihre Chats aus Facebook und anderen Internetforen, die sie mit ihren Freundinnen geführt hat. Unzählige SMS . Ihre Schwester äußerte darin, sie hasse den Mann, den sie heiraten sollte. Sie hasse die Vorstellung, Berlin verlassen zu müssen. Sie hat mehrmals geschrieben, dass sie Zinar Kara, den Sohn von Bozan Kara, niemals heiraten würde, eher würde sie sterben.«
    Totenstille im Gerichtssaal 500 des Landgerichts Moabit. Bis der Angeklagte begann, ganz leise zu schluchzen. Niemand rührte sich, alle blickten auf den großen jungen Mann, dessen Schultern leicht bebten. Aber die Richterin war nicht geneigt, die Befragung abzubrechen. Sie setzte nach. »Angenommen, Derya hätte in der fraglichen Nacht mit Valentin Bucherer – oder meinetwegen einem anderen – Geschlechtsverkehr gehabt. Angenommen, die Hochzeit wäre daraufhin abgesagt worden, weil der Bräutigam hätte feststellen müssen, dass die Braut keine Jungfrau mehr war. Wer hätte daran Schaden genommen? Zu wessen Nachteil wäre das gewesen?«
    Aras hob den Kopf. Die Tränen liefen über sein Gesicht, aber er antwortete sehr klar und deutlich. »Unser Stamm. Mein Vater.«
    Die Karst nickte. »Dieser Herr Kara hätte seine Arbeit anderweitig verteilt. Und Ihr Vater hätte sein Gesicht verloren. Es stand also einiges auf dem Spiel. Wo ist Ihr Vater heute?«
    »Er ist krank.« Wenn es eine Lüge war, war es perfekt gelogen, dachte Ruth. Die Antwort auf die überraschend gestellte Frage war wie aus der Pistole geschossen gekommen, und der Angeklagte sah der Richterin dabei gerade in die Augen.
    Die Karst erwiderte den Blick streng. Sie fixierte den jungen Demizgül einige Sekunden, bis sie eine zehnminütige Unterbrechung ankündigte, damit die Richter sich besprechen könnten.
    »Nein!« Aras Demizgül war aufgestanden und einen Schritt auf die Richterempore zugetreten. Die Polizisten im Saal waren sofort in Alarmbereitschaft.
    »Bitte, keine Pause. Ich muss etwas sagen.« Es war deutlich, dass der Angeklagte ein dringendes Anliegen hatte, und die Karst nickte ihm ganz leicht zu, als
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