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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Autoren: Bertrand Russell
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rechtfertigen. Politisch hatten anderthalb Jahrhunderte von Religionskriegen kaum eine Veränderung im Machtverhältnis zwischen Katholiken und Protestanten bewirkt. Aufgeklärte Geister hatten begonnen, theologische Kontroversen als so absurd zu betrachten, wie sie bei Swift im Krieg zwischen Dick-Endern und Dünn-Endern karikiert worden waren. Extreme protestantische Sekten hatten, indem sie sich auf innere Erleuchtung beriefen, die so genannte Offenbarung zu einer Kraft der Anarchie gemacht. Herrliche Unternehmungen auf wissenschaftlichem wie auf kommerziellem Gebiet lockten energische Männer von unfruchtbaren Disputationen weg. Glücklicherweise folgten sie dieser Lockung, und zwei Jahrhunderte eines beispiellosen Fortschritts waren das Ergebnis.
    Heute erleben wir nun wiederum eine Epoche der Religionskriege, nur dass die Religion jetzt »Ideologie« heißt. Die liberale Philosophie wird zur Zeit von vielen als zu zahm und überholt empfunden; die idealistischen jungen Leute sehen sich nach etwas Handfesterem um, das eine endgültige Antwort auf alle ihre Fragen gibt, nach einer Mission, nach einem tausendjährigen Reich. Mit einem Wort, wir haben uns in ein neues Zeitalter der Glaubenskämpfe gestürzt. Unglücklicherweise ist jedoch die Atombombe ein schneller wirkendes Vernichtungsmittel als der Scheiterhaufen und darf keinesfalls eine so lange Herrschaft ausüben. Wir müssen hoffen, dass sich eine vernünftigere Betrachtungsweise durchsetzt, denn unsere Welt kann nur bei einer Wiederbelebung liberaler Erprobungsmethoden und Toleranz bestehen bleiben.
    Die Wissenstheorien des Empiristen – zu deren Anhängern ich, mit einigen Einschränkungen, gehöre – steht in der Mitte zwischen Dogma und Skepsis. Fast alles, was sie an Wissen enthält, ist in gewissem Umfang zweifelhaft; höchstens in Bezug auf die Mathematik und die Tatsachen der unmittelbaren Sinneswahrnehmung kann der Zweifel – wenn überhaupt – vernachlässigt werden Einsteins allgemeine Relativitätstheorie ist wahrscheinlich, in weiterem Sinne, wahr, aber man wird uns die Auffassung nicht verübeln dürfen, dass hinsichtlich der Mutmaßungen über den Umfang des Universums spätere Forschungen etwas andere Resultate ergeben können. Die moderne Atomtheorie ist pragmatisch wahr, da sie uns die Herstellung von Atombomben ermöglicht; ihre Folgen sind, um den munteren Ausdruck der Instrumentalisten zu gebrauchen, »befriedigend«. Aber es ist nicht unwahrscheinlich, dass im Laufe der Zeit eine ganz andere Theorie gefunden wird, die für die beobachteten Tatsachen eine bessere Erklärung hat.
    Im Bereich der praktischen Politik hat eine solche Einstellung weitreichende Folgen. Erstens ist es nicht lohnend, ein verhältnismäßig sicheres Unheil in der Gegenwart für ein verhältnismäßig zweifelhaftes Heil in der Zukunft in Kauf zu nehmen. Wenn die Theologie in früheren Zeiten ihrer Sache ganz sicher war, dann wäre es in Ordnung gewesen, Menschen zu verbrennen, damit die Überlebenden in den Himmel kämen. Wenn es aber zweifelhaft war, ob Ketzer in die Hölle müssten, dann konnte auch der Grund zu ihrer Verfolgung nicht stichhaltig sein. Wenn die Lehre von Marx mit Sicherheit richtig ist, und wir nach der Abschaffung des Kapitalismus augenblicklich und für immer glücklich werden, dann ist es in der Ordnung, diesem Ziel mit allen Mitteln der Diktatur, mit Konzentrationslagern und Weltkriegen nachzugehen. Wenn der Erfolg aber nicht feststeht, oder die Mittel zu seiner Erzielung nicht zuverlässig erscheinen, dann wird ein in der Gegenwart zu ertragendes Leid zum unumstößlichen Argument gegen solche drastischen Methoden. Wären wir sicher, die Welt würde ohne Juden zum Paradies, ließe sich gegen Auschwitz nichts mehr einwenden. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass die mit Hilfe derartiger Methoden geschaffene Welt zur Hölle würde, und daher dürfen wir unserer natürlichen menschlichen Abneigung gegen alle Grausamkeit freies Spiel lassen.
    Da die weiteren Folgen bestimmter Taten im allgemeinen weniger gewiss sind als die unmittelbaren, lässt es sich nur selten rechtfertigen, sich auf irgend eine Politik nur aus dem Grunde einzulassen, weil sie zwar heute schädlich ist, auf lange Sicht aber wohltätig sein soll. Wie alle anderen Prinzipien der Empiriker gilt zwar auch dieses nicht im absoluten Sinne: es gibt Fälle, in denen die künftigen Folgen einer Politik mit Sicherheit sehr unangenehm sind, während die momentanen Folgen einer
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