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Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)

Titel: Unpopuläre Betrachtungen (German Edition)
Autoren: Bertrand Russell
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anderen Politik wenn nicht angenehm, so doch erträglich erscheinen. Das führt zum Beispiel dazu, dass man Vorräte an Nahrungsmitteln für den Winter anlegt, Geld in Maschinen investiert, und so weiter. Aber selbst in solchen Fällen sollte man damit rechnen, dass es auch anders kommen kann. Während einer Hochkonjunktur stellen sich viele Investitionen als unrentabel heraus, und moderne Nationalökonomen stellen fest, dass man eher durch Investitionen als durch Verbrauch zu Schaden kommt.
    Es wird allgemein behauptet, dass in einer Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Fanatikern die Fanatiker mit Sicherheit den Sieg davontragen würden, weil sie einen unerschütterlichen Glauben an die Rechtmäßigkeit ihrer Sache besäßen. Diese Ansicht ist schwer auszurotten, obwohl der ganze Verlauf der Geschichte einschließlich der letzten Jahre dagegen spricht. Die Fanatiker sind immer wieder gescheitert, weil sie Unmögliches versuchten, oder weil sie, selbst wenn ihr Ziel im Bereich des Möglichen lag, zu unwissenschaftlich waren, um die richtigen Mittel anzuwenden; und sie scheiterten auch, weil sie die Feindseligkeit derer wachriefen, die sie bezwingen wollten. In jedem bedeutenderen Krieg seit 1700 war die demokratischere Partei siegreich. Das liegt zum Teil daran, dass Demokratie und Empirismus – eng miteinander verknüpft – die Tatsachen nicht zugunsten einer Theorie zu verdrehen suchen. Russland und Kanada sind bei ähnlichen klimatischen Bedingungen beide an einer besseren Weizenernte interessiert; in Kanada verfolgt man dieses Ziel experimentell, in Russland durch Auslegung der Marxschen Schriften.
    Dogmatische Systeme ohne empirische Grundlagen, wie die scholastische Theologie, der Marxismus und der Faschismus, haben den Vorteil, unter ihren Anhängern ein hohes Maß sozialen Zusammenhanges herzustellen. Demgegenüber steht der Nachteil, zur Verfolgung wertvoller Bevölkerungsteile zu führen. Spanien wurde durch die Vertreibung der Juden und Mauren zugrunde gerichtet; Frankreich wurde durch die Emigration der Hugenotten nach der Aufhebung des Edikts von Nantes schwer geschädigt; ohne den Judenhass Hitlers wäre Deutschland wahrscheinlich zuerst im Besitz der Atombombe gewesen. Dogmatische Systeme haben ferner, um es noch einmal zu sagen, den Nachteil, falsche Überzeugungen über praktisch wichtige Tatsachen zu nähren und heftige Gegnerschaft bei denen zu wecken, die den fraglichen Fanatismus nicht teilen. Aus diesen verschiedenen Gründen ist nicht zu erwarten, dass auf lange Sicht Völker, die einer dogmatischen Philosophie ergeben sind, den Anhängern einer empirischen Grundhaltung den Rang ablaufen können. Auch trifft es nicht zu, dass für den sozialen Zusammenhang Dogmen unerlässlich sind; das hat das englische Volk 1940 in einem Maße bewiesen, das von keiner anderen Nation hätte übertroffen werden können.
    Der Empirismus empfiehlt sich schließlich nicht nur wegen seines größeren Wahrheitsgehalts, sondern auch wegen seiner ethischen Grundlage. Dogmen erfordern weniger intelligentes Denken, als vielmehr Autorität zur Entscheidung über Ansichten; sie machen Ketzerverfolgungen und eine feindselige Haltung gegen Ungläubige notwendig; sie verlangen von ihren Anhängern, ihre natürliche Gutherzigkeit zugunsten systematischen Hassen zu bekämpfen. Da eine logische Beweisführung nicht als Mittel zur Erlangung der Wahrheit anerkannt wird, bleibt den Anhängern rivalisierender Dogmen der Krieg als einziges Mittel, mit dem eine Entscheidung herbeigeführt werden kann. Und Krieg bedeutet in unserem wissenschaftlichen Zeitalter früher oder später den Weltuntergang.
    So komme ich zu dem Ergebnis, dass heute wie zur Zeit Lockes der empirische Liberalismus – der nicht unvereinbar mit einem demokratischen Sozialismus ist – die einzige Philosophie darstellt, zu der ein Mensch sich bekennen kann, der einerseits nach wissenschaftlichen Beweisen verlangt, um glauben zu können, und andererseits das Glück der Menschheit über die Herrschaft dieser oder jener Partei oder Religion stellt. Unsere verworrene und komplizierte Welt bedarf verschiedener Dinge, um dem Unheil zu entgehen, und dazu zählt mit in erster Linie, dass bei den Völkern, die noch an liberalen Anschauungen festhalten, diese Überzeugung auch tief und fest verwurzelt ist; dass sie sowohl den Dogmatismus der Rechten wie der Linken kompromisslos ablehnen und zutiefst vom Wert der Freiheit und Toleranz durchdrungen sind. Ohne einen
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