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Unheil

Unheil

Titel: Unheil
Autoren: James Herbert
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einer großen, beinahe fest aussehenden Masse über den Himmel trieb, fort von den Ruinen des Dorfes.

3

    Der Reverend Martin Hurdle wanderte mit schwerem Herzen über die Felder. Seine Gedanken weilten bei dem benachbarten Dorf, das unter dem großen Unheil gelitten hatte, dem friedlichen kleinen Dorf, das von dem Erdbeben nahezu zerstört worden war. Das Ereignis hatte die ganze Woche zu Schlagzeilen in den Zeitungen geführt. Der große Schock war, daß es in England geschehen war, nicht in irgendeinem fernen Land, von dem die Leute kaum je etwas gehört hatten. Dies war vor ihrer eigenen Türschwelle geschehen, und die Briten konnten es in Beziehung zu ihrem eigenen Leben bringen und dadurch wahres Mitgefühl empfinden, das sonst schwer zu wecken ist. Dies war ihres- gleichen widerfahren, dann die Menschen dieses Dorfes waren Nachbarn, Verwandte, waren Landsleute. Deshalb sollte heute der Grundgedanke seiner Predigt sein: daß sie durch dieses tragische Ereignis jetzt vielleicht wirkliches Verständnis und Mitgefühl für das Los anderer Menschen und Völker in aller Welt aufbringen würden, denen das Unglück ein täglicher Begleiter des Lebens war. Die Menschen waren zu sehr auf ihre eigenen weltlichen Alltagsprobleme fixiert: Geldsorgen, Sorgen um den Arbeitsplatz, um Herzensangelegenheiten, Familienstreitigkeiten, Verdruß mit Nachbarn, Ärger über die Unerfülltheit des eigenen Daseins — im Grund alles unbedeutende Dinge, aber erst angesichts einer Katastrophe im richtigen Verhältnis zu sehen.
    Dieses tragische Ereignis würde die Menschen zwingen, ihren Blick nach außen zu richten, zu sehen, was in der Welt um sie her geschah, zu erkennen, wie bedeutungslos ihre eigensüchtigen Wünsche und Sorgen waren. Er wollte versuchen, seiner Gemeinde anhand dieses Geschehens zu zeigen, wie das Leben eigentlich war, daß die Welt sich nicht um Individuen drehte, sondern daß der einzelne die Pflicht hatte, sich teilnehmend und dienend der Gemeinschaft zu- zuwenden. Jeder hatte die Pflicht, seinem bedürftigen Nächsten zu helfen. Daß die Katastrophe das Nachbardorf getroffen hatte, bewies, daß das Unheil jeden jederzeit und an jedem Ort treffen konnte; niemand, keine Gemeinde und kein Volk, war davor geschützt.
    Seine Predigt hatte er in Gedanken bereits fertig. Er wußte, wie er sich an diesem Sonntagmorgen an seine Gemein- de wenden würde, wann seine Stimme beinahe zu einem Flüstern absinken, wann sie zu einem lauten, herzbewegen- den Appell anschwellen mußte. Nach dreißig Jahren als Geistlicher kannte er die Wirkung einer guten Predigt auf seine Gemeinde, und mit fünfundfünfzig war er noch nicht ganz an der menschlichen Natur verzweifelt. Noch in den schlechtesten Menschen gab es Gutes, geradeso wie auch die frömmsten Gläubigen heuchlerisch und überheblich sein konnten.
    Er zuckte hilflos die Achseln. Gewöhnlich hatte er an seinem Morgenspaziergang über die Felder Freude, fand die rechten Gedanken für seine Sonntagspredigt, aber heute la- stete die Tragödie noch allzu schwer auf seiner Seele. Sobald er die Nachricht erhalten hatte, war er zu dem betroffenen Dorf gefahren, seine Hilfe anzubieten, den Sterbenden die Letzte Ölung zu geben und die Verletzten zu trösten. Der letzte Krieg war seine einzige Erfahrung von Tod und Zerstörung in diesem Ausmaß gewesen, und er hatte geglaubt, daß ihn nichts mehr erschrecken könnte, aber durch dieses Erlebnis wurden alte Erinnerungen geweckt und Narben, die er geheilt geglaubt hatte, waren neuerlich aufgebrochen.
    Aufblickend bemerkte er, daß er in eine Nebelbank geraten war. Morgennebel waren ihm vertraut, aber dieser schien anders. Er hatte eine gelbliche Tönung und war ungewöhnlich dicht. Auch der Geruch war eigentümlich. Meine Güte, dachte er bei sich, ich sollte besser umkehren und aus dieser Nebelbank herauskommen. Es wäre eine feine Geschichte, wenn ich mich verlaufen und zum Gottesdienst verspäten würde.
    Er ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, und wurde nervös, als sein beschleunigter Schritt ihn nicht aus dem dichten Nebel herausführte. Wie seltsam, an einem so schönen Sommermorgen in dichten Nebel zu gera- ten. Das war so schlimm wie die alte Londoner >Erbsensuppe<. Er blickte zum Himmel auf und konnte gerade die matten Umrisse der Sonne erkennen. Auf einmal überkamen ihn Zweifel, ob er den richtigen Weg einschlug.
    »Großer Gott«, murmelte er, »habe ich mich doch verlaufen!« Aber was war das? Er bekam
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