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Ungeahnte Nebenwirkungen

Ungeahnte Nebenwirkungen

Titel: Ungeahnte Nebenwirkungen
Autoren: Victoria Pearl
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passende Formulierungen eingefallen, mit denen sie Mirjam ihre Wut hätte entgegenschleudern können.
    Der Praxisraum war leer. Nicole setzte sich in den Stuhl, ließ sich das obligatorische Lätzchen umbinden und wartete auf den Auftritt der Hauptperson. Endlich öffnete sich die Tür, und Dr. Schiesser betrat das Zimmer. Nicole war wie gelähmt. Sie starrte die Ärztin an, verschlang sie mit ihren Blicken und stellte sich, ohne es zu wollen, die Frau nackt in ihrem Bett liegend vor.
    »Guten Tag, Frau Dupont«, begrüßte Mirjam sie mit ausdrucksloser Stimme. »Wir werden heute den zweitletzten Weisheitszahn entfernen. Bitte öffnen Sie Ihren Mund.«
    Nicole gehorchte automatisch. Sie fand in ihrem leeren Hirn keinen Fetzen Vernunft mehr. Die sorgfältig zurechtgelegten Worte hatten sich ins Niemandsland zurückgezogen.
    Nicole musterte Mirjam aufmerksam, während diese die Spritze aufzog. Heute trug die Zahnärztin wieder Stoffhosen, stellte die Betrachterin bedauernd fest. Ihr Kittel war geschlossen, darunter erkannte Nicole einen feinen Rollkragenpullover.
    Na so was, dachte sie erstaunt, keine offenen Knöpfe? Da will jemand wohl auf Nummer Sicher gehen! Diese Erkenntnis gab der Patientin etwas von ihrer Gelassenheit zurück. Offenbar konnte Mirjam doch nicht einfach über das hinwegsehen, was zwischen ihnen passiert war.
    Mirjam Schiesser verließ den Raum, während Nicole ergeben wartete, bis die Spritze wirkte. Nach wenigen Minuten kehrte die Zahnärztin zusammen mit der Assistentin zurück und begann ohne weitere Verzögerung mit der Operation. Sie arbeitete wie gewohnt schnell und konzentriert und verlor kein unnötiges Wort. Diesmal schien es Nicole, als bemühte sich Mirjam, den Abstand zwischen ihnen möglichst groß zu halten, was sich aber als ziemlich schwierig erwies.
    Das Kribbeln, das die leichten Berührungen in Nicole auslösten, raubte ihr den Atem. Sie kannte dieses Gefühl, sie kannte es nur zu gut, doch jetzt wusste sie, dass es beim Traum bleiben würde. Nicole seufzte innerlich auf. Die Fragen, die sie in den vergangenen Tagen immer wieder gewälzt hatte, tauchten erneut auf. Sie konnte sie nicht beantworten, würde es wahrscheinlich nie können.
    Der Zahn fiel in die Schale und holte Nicole aus ihren trübseligen Gedanken zurück. Mirjam entledigte sich der Handschuhe und des Mundschutzes. Sie prüfte noch einmal die Naht, die sie angelegt hatte, und nickte dann zufrieden.
    »Den letzten Zahn nehmen wir uns übernächste Woche vor«, verkündete sie teilnahmslos. »Auf Wiedersehen, Frau Dupont.«
    Wie vor den Kopf geschlagen saß Nicole noch immer im bequemen Lederstuhl. Das war’s? Das war wirklich alles? Kein Wort der Entschuldigung für ihre überstürzte Flucht? Keine Erklärung, kein gar nichts? Frau Dupont, sagte sie, so als hätte sie sie nie berührt! Nicole stand zu schnell auf. Leichter Schwindel erfasste sie. Mühsam versuchte sie ihr Gleichgewicht zu finden.
    Noch immer benommen verließ Nicole wenig später die Praxis. Sie überlegte, ob sie sich bei einem anderen Zahnarzt anmelden sollte. Diesen Gedanken verwarf sie ebenso schnell wieder, wie er gekommen war, denn Dr. Schiesser machte ihre Arbeit wirklich gut. Und vielleicht wäre es möglich, sie beim nächsten Mal auf ihr seltsames Verhalten anzusprechen?

~*~*~*~
    N icole hätte als Maulwurf zur Welt kommen sollen, oder sie wäre besser Bibliothekarin als Schuhverkäuferin geworden. Immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste, wenn das Leben sie zu sehr beutelte, dann floh sie in die Welt der geschriebenen Worte. Sie konnte sich stundenlang in Büchern vergraben, sich in den fiktiven Leben und Gefühlen erfundener Menschen verlieren. Aus dieser Welt, in der sie ihre eigenen Sorgen, Ängste und Fragen vergaß, tauchte sie nur sehr widerwillig auf, um ihren alltäglichen Pflichten nachzukommen.
    Helen hatte ihr untersagt, Bücher ins Geschäft mitzunehmen, denn dann war Nicole über Stunden nicht mehr ansprechbar und merkte auch nicht, dass ihre Dienste gebraucht wurden. Im momentanen Gefühlschaos unterließ es Nicole von sich aus, denn sie wollte nicht, dass Helen etwas von ihren Stimmungsschwankungen mitbekam, beim Anblick eines dicken Buches unter Nicoles Arm aber hätte sie bestimmt sofort die richtigen Schlüsse gezogen.
    Vierzehn Tage lagen vor Nicole bis zum nächsten Termin bei Dr. med. dent. Schiesser. Ganz erfahrene Zahnarztkundin bewältigte sie die Nachwirkungen der dritten Operation mit einem müden Lächeln auf
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