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Unendlichkeit

Unendlichkeit

Titel: Unendlichkeit
Autoren: Alastair Reynolds
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zögerte. Ein unpassender Ausdruck könnte Triumvir Hegazi verärgern – nicht dass sie das sonderlich gestört hätte. Ob sie es wohl wagen durfte, von der ›Schmelzseuche‹ zu sprechen, nachdem die Bewohner von Yellowstone diesen Namen geprägt hatten? Vielleicht war es doch nicht zu empfehlen.
    »…Krankheit scheint sich seit dem letzten Eintrag nicht weiter beschleunigt zu haben. Die Fortschritte betragen nur wenige Millimeter. Kryo-Funktionen nach wie vor im grünen Bereich – erstaunlich. Aber wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass ein Ausfall des Tanks früher oder später unvermeidlich…« Wenn es dazu kam, dachte sie, und es ihnen nicht gelang, den Captain schnell genug in ein neues Gerät zu verlegen (wobei nach wie vor offen war, wie sie das bewerkstelligen wollten), hätten sie auf jeden Fall ein Problem weniger, mit dem sie sich herumschlagen mussten. Auch er wäre dann – hoffentlich – aller Sorgen ledig.
    Sie befahl dem Armband »Logbuch schließen« und fügte hinzu: »Hirnkern des Captains um fünfzig Millikelvin erwärmen.« Sie wünschte sich sehnlichst, für diesen Moment noch einen Glimmstängel aufgespart zu haben.
    Sie wusste aus Erfahrung, dass dieser Wert das erforderliche Minimum war. Bei geringerer Temperaturerhöhung blieb das Gehirn in eisiger Stasis gefangen. Bei stärkerer Erwärmung beschleunigten sich die Transformationen für ihren Geschmack zu sehr.
    »Captain?«, fragte sie. »Können Sie mich hören? Ich bin es, Ilia.«
 
    Sylveste stieg aus dem Schlepper und ging zum Gitter zurück. Während des Gesprächs mit Calvin war der Wind merklich stärker geworden. Seine Wangen brannten. Der Staub war so rau wie eine Hexenhand.
    »Hoffentlich hat die kleine Unterhaltung ihren Zweck erfüllt.« Pascale hatte sich die Maske abgerissen und schrie gegen den Wind an. Sie wusste über Calvin Bescheid, hatte allerdings noch nie persönlich mit ihm gesprochen. »Sind Sie jetzt bereit, Vernunft anzunehmen?«
    »Holen sie mir Sluka.«
    Normalerweise hätte sie sich gegen einen solchen Befehl verwahrt; jetzt nahm sie Rücksicht auf seine schlechte Laune, ging zum zweiten Schlepper und kam kurz darauf mit Sluka und einigen anderen Arbeitern wieder.
    »Wie man mir sagte, wollen Sie uns jetzt anhören?« Sluka baute sich vor ihm auf, der Wind wehte ihr eine lose Haarsträhne vor die Schutzbrille. In einer Hand hielt sie die Maske, aus der sie immer wieder Luft holte, die andere hatte sie in die Hüfte gestemmt. »In diesem Fall werden sie feststellen, dass man mit uns vernünftig reden kann. Ihr guter Ruf liegt uns allen am Herzen. Wenn wir erst wieder in Mantell sind, werden wir über die Sache kein Wort mehr verlieren. Wir werden sagen, Sie hätten den Abzug sofort befohlen, als die Warnung kam. Dann ist es allein Ihr Verdienst.«
    »Und Sie glauben, das spielt auf lange Sicht irgendeine Rolle?«
    »Was ist an einem einzigen Obelisken so verdammt wichtig?«, fauchte Sluka. »Was ist an den ganzen Amarantin so verdammt wichtig?«
    »Sie haben die größeren Zusammenhänge nie erkannt, wie?«
    Pascale stand etwas abseits, hielt die abnehmbare Kamera ihres Notepads in der Hand und zeichnete diskret – aber nicht so diskret, dass er es nicht bemerkt hätte – die Unterredung auf. »Manche Leute würden sagen, es gäbe gar keine größeren Zusammenhänge«, sagte Sluka. »Sie hätten die Bedeutung der Amarantin nur übertrieben, um die Archäologen in Lohn und Brot zu halten.«
    »Das ist Ihre Ansicht, Sluka, nicht wahr? Aber Sie waren schließlich von Anfang an nicht unbedingt eine von uns.«
    »Was soll das heißen?«
    »Das soll heißen, dass Girardieu keine bessere Wahl hätte treffen können, wenn er jemanden von seinen Leuten bei uns hätte einschleusen wollen.«
    Sluka drehte sich zu ihren Kollegen um, die Sylveste immer mehr wie eine aufgebrachte Horde erschienen. »Hört euch den armen Teufel an – schon ertrinkt er in Verschwörungstheorien. Jetzt kann man sich etwa vorstellen, was der Rest der Kolonie seit Jahren erlebt.« Schon hatte sie ihn wieder im Visier. »Mit Ihnen ist nicht zu reden. Wir fahren ab, sobald die Geräte verstaut sind – und falls der Sturm noch stärker wird, schon vorher. Sie können mitkommen.« Sie nahm einen Atemzug durch die Maske, ihre Wangen bekamen wieder Farbe. »Aber Sie können auch versuchen, hier draußen zu überleben. Das liegt ganz bei Ihnen.«
    Er wandte sich an die Horde. »Dann geht doch! Fahrt ruhig los! Lasst euch von sentimentalen
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