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Und morgen bist Du tot

Und morgen bist Du tot

Titel: Und morgen bist Du tot
Autoren: Peter James
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edwardianischen Villa in einer ruhigen Nebenstraße von Hove. Früher hatte es hier nur solche freistehenden Häuser gegeben, doch viele der prächtigen Villen waren abgerissen und durch Mehrfamilienhäuser ersetzt worden. In den verbliebenen Villen waren Büros oder Arztpraxen untergebracht.
    Sie trat in den vertrauten Flur, in dem es nach Möbelpolitur und Desinfektionsmitteln roch. Dr. Hunters Sekretärin saß am Schreibtisch und telefonierte. Lynn setzte sich ins Wartezimmer.
    In den vergangenen fünfzehn Jahren hatte sich der große, schäbige Raum nicht verändert. Derselbe weiße Fleck an der Stuckdecke, dessen Umrisse entfernt an Australien erinnerten, derselbe Gummibaum vor dem Kamin, derselbe muffige Geruch und dieselben zusammengewürfelten Sessel und Sofas, die aussahen, als hätte man sie in ferner Vergangenheit bei einer Wohnungsauflösung erstanden. Selbst die Zeitschriften auf dem runden Eichentisch sahen aus, als lägen sie seit Jahren dort.
    Sie warf einen Blick auf einen gebrechlich wirkenden alten Mann, der tief in einem Sessel mit kaputten Sprungfedern hing. Er hatte seinen Gehstock in den Teppich gebohrt und hielt ihn fest umklammert, als wollte er nicht gänzlich im Sessel verschwinden. Neben ihm saß ein ungeduldig wirkender Mann Mitte dreißig, der mit seinem BlackBerry beschäftigt war. In einem der Ständer lagen mehrere Broschüren, darunter ein Ratgeber, wie man mit dem Rauchen aufhören könnte, doch ihr augenblickliches Nervenkostüm verlangte eher nach einem Ratgeber, wie man noch mehr rauchen konnte.
    Auf dem Tisch lag eine aktuelle Ausgabe der Times, aber ihr war nicht nach Lesen zumute. Sie hatte kaum geschlafen, seit Dr. Hunters Sekretärin sie am gestrigen Vormittag angerufen und gebeten hatte, gleich heute Morgen allein in die Praxis zu kommen. Sie fühlte sich zittrig, ihr Blutzuckerspiegel war zu niedrig. Sie hatte zwar ihre Medikamente genommen, danach aber kaum gefrühstückt.
    Nachdem sie sich auf die Kante eines harten Stuhls gesetzt hatte, wühlte sie in ihrer Tasche und steckte sich einige Traubenzuckertabletten in den Mund. Weshalb wollte Dr. Hunter sie eigentlich so dringend sehen? Ging es um die Blutuntersuchung von letzter Woche oder eher um Caitlin? Wenn sie früher Angst gehabt hatte – so wie damals, als sie einen Knoten in ihrer Brust entdeckt oder befürchtet hatte, das irrationale Verhalten ihrer Tochter sei auf einen Gehirntumor zurückzuführen –, hatte er immer selbst angerufen und ihr mitgeteilt, dass die Ergebnisse von Biopsie, CT oder Blutuntersuchung negativ seien und es keinen Grund zur Sorge gebe. Abgesehen davon, dass bei Caitlin immer Grund zur Sorge bestand.
    Lynn schlug nervös die Beine übereinander. Sie hatte ihren besten Mantel angezogen, blau, eine Mischung aus Wolle und Kaschmir, den sie im Winterschlussverkauf erstanden hatte. Dazu einen dunkelblauen Strickpulli, eine schwarze Hose und schwarze Wildlederstiefel. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, versuchte sie, bei ihren Arztbesuchen immer möglichst gut auszusehen. Sie donnerte sich nicht auf, machte sich aber nett zurecht. Wie jede zweite seiner Patientinnen schwärmte auch sie seit langem für Dr. Hunter. Natürlich hätte sie nie gewagt, ihm das zu zeigen.
    Seit sie und Mal sich getrennt hatten, lag ihr Selbstwertgefühl am Boden. Sie war eine attraktive Frau und hätte noch sehr viel attraktiver sein können, wenn sie wieder ein bisschen zugenommen hätte, wie ihre Freunde und ihre kürzlich verstorbene Schwester ihr immer sagten. Der Spiegel zeigte ihr täglich ihr ausgemergeltes Gesicht. Ausgemergelt von sechs Jahren ständiger Sorge um Caitlin.
    Kurz nach ihrem neunten Geburtstag hatte man bei ihrer Tochter eine Lebererkrankung diagnostiziert. Seither schienen sie beide in einem langen, dunklen Tunnel zu stecken. Die endlosen Termine bei Spezialisten. Die Untersuchungen. Die kurzen Krankenhausaufenthalte in Sussex und die längeren in der Spezialabteilung für Lebererkrankungen des Royal South London Hospital. Einmal war Caitlin fast ein ganzes Jahr dort geblieben. Sie hatte Operationen über sich ergehen lassen müssen, bei denen man Stents in ihre Gallenwege einsetzte. Dann wurden diese wieder entfernt. Es folgten endlose Transfusionen. Manchmal fühlte Caitlin sich so schlapp, dass sie in der Schule einschlief. Sie konnte nicht mehr auf ihrem geliebten Saxophon spielen, weil sie Atemprobleme bekam. Und als sie ins Teenageralter kam, wurde Caitlin zunehmend zorniger und
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