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Und kurz ist unser Leben

Und kurz ist unser Leben

Titel: Und kurz ist unser Leben
Autoren: Colin Dexter
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gerichtsmedizinischen Bericht ein Hinweis
auf die verwendete Art der Waffe zu finden ist. Möglicherweise trafen nur zwei
Schläge Yvonnes Kopf. Der erste zerschmetterte den rechten Wangenknochen und
das Nasenbein. Der zweite, heftigere und offenbar tödliche Schlag traf die
Schädelbasis, als Yvonne in einem verzweifelten Versuch, sich zu schützen, den
Kopf wegdrehte. Es hieß, diese Verletzungen habe höchstwahrscheinlich ein
«stahlrohrähnlicher Gegenstand» verursacht.
    Ein
Gehstock!
    Woher
ich das weiß? Von Wissen kann keine Rede sein, aber es würde mich sehr wundern,
wenn ich der Wahrheit nicht sehr nah gekommen wäre. Und wieder einmal waren Sie
der Auslöser. Sie versuchten meine phantasievolle Vorstellung, Sarah sei in
fliegender Hast zum Kino gelaufen, um eine Karte zu erstehen, mit der Bemerkung
zu bremsen, von fliegender Hast könne an jenem Abend keine Rede sein, weil sie
sich den Knöchel verstaucht hatte und allenfalls humpeln konnte. Jawohl — sie
humpelte auf einem Gehstock herum, den man ihr wahrscheinlich in der
Physiotherapie verpasst hatte. (Bitte stellen Sie fest, ob und wann der
Gehstock zurückgegeben wurde.)
    Es
ist mir klar, dass es nicht leicht sein wird, Sarahs Schuld zweifelsfrei zu
beweisen, aber ich verspreche mir einiges von dem sehnlichst erwarteten
Gespräch mit ihrem Vater. Er dürfte ein würdiger Gegner für mich sein, aber ich
vermute, dass selbst er inzwischen fast am Ende ist. Falls ich das zu
optimistisch sehe, bleibt noch Sarah selbst. Es würde mich sehr wundern, wenn
die beiden nicht in den letzten Tagen und Wochen engen Kontakt gehalten hätten,
und ich habe das Gefühl, dass es sie — genau wie ihren Vater — drängt, jener
Hölle zu entfliehen, in der sie so lange gelitten hat. Jenseits von
Gerichtsurteilen und Strafen bringt Schuldbewusstsein bekanntlich seine eigene
moralische Vergeltung mit sich.
    Eins
steht fest: Dies ist mein letzter Fall. Ich bin entschlossen, mich zur Ruhe zu
setzen und das Leben etwas ruhiger und vernünftiger angehen zu lassen. Wir
haben so viele Fälle miteinander bearbeitet, alter Freund, und ich bin sehr
glücklich und sehr stolz, dass ich so lange mit ihnen habe arbeiten dürfen.
    Es
ist jetzt Viertel vor eins, und ich bin plötzlich todmüde.
     
    Eine halbe Stunde später lagen
die Notizen auf dem Schreibtisch von Chief Superintendent Strange.
    Und Lewis hatte nichts mehr mit
der Ermittlung zu schaffen.

Kapitel
80
     
    Ich
bin im Ruhestand. Man kann mir in gepflegten Gärten begegnen. Man erkennt mich
an meiner leeren Miene, den sinnlosen Bewegungen, dem Herumstreifen ohne Zweck und
Ziel. Ich bewege mich im Kreis, nicht von einem Punkt zum anderen.
    (Charles
Lamb, Essays)
     
     
    Keine Wolke drohte den klaren
Abend zu trüben, als Strange im August desselben Jahres seine Abschiedsparty
gab. Der Polizeipräsident höchstpersönlich hatte die Abschiedsrede gehalten und
sich lobend über seine langen verdienstvollen Jahre bei der Thames Valley
Police ausgelassen, die mit der Aufklärung des Mordfalls Yvonne Harrison ihren
krönenden Abschluss gefunden hatten.
    Strange seinerseits hatte eine
relativ geistreiche und glücklicherweise kurze Rede mit einer persönlichen
Huldigung an Chief Inspector Morse abgeschlossen.
    «Einen Mann wie ihn werden wir
so bald nicht mehr erleben, und darüber müssten weniger intelligente
Zeitgenossen wie ich eigentlich heilfroh sein. Wir freuen uns sehr, dass heute
Sergeant Lewis, sein treuer Freund und — äh — Trinkkumpan (gedämpftes
Gelächter) bei uns ist. (Hört, hört!) Morse selbst hatte sich Trauerfeier und
sonstige offizielle Feierstunden ausdrücklich verbeten, aber wenn ich heute
Abend seiner gedenke, habe ich kein schlechtes Gewissen, denn er war der
genialste Kopf, dem ich jemals in meiner polizeilichen Laufbahn begegnet bin.
Jetzt bleibt mir nur noch, Ihnen allen zu danken, die Sie zu meiner
Abschiedsfeier gekommen sind, mich für den Rasenmäher und das Buch zu
bedanken...» Er hielt Sir David Attenboroughs Leben der Vögel hoch.
«...und Sie daraufhinzuweisen, dass nebenan ein üppiges kaltes Büffet aufgebaut
ist, unter anderem mit einem großen Teller Krapfen, der eigens für einen
unserer Kollegen reserviert ist.» (Viel Gelächter und starker Beifall.)
    Lewis hatte kräftig
mitgeklatscht, sehr bald aber entzog er sich dem Schulterschlagen und den
Reminiszenzen, setzte sich in der verlassenen Kantine in eine Ecke und trank
einen Orangensaft. Er wollte eine Weile mit seinen Gedanken
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