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Unbefugtes Betreten

Unbefugtes Betreten

Titel: Unbefugtes Betreten
Autoren: Julian Barnes
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noch einmal die sechs- oder siebenjährige Andrea an – nur wenig älter als Melanie – und nahm das Bild im Kopf mit nach Hause.
    Beim dritten Mal zog er vorsichtig die oberste Schublade auf; sie klemmte, und Andreas Mama kippte um. Da lag vor allem Unterwäsche, das meiste davon vertraut. Dann nahm er sich die unterste Schublade vor, weil da gewöhnlich die Geheimnisse aufbewahrt werden, und fand nur Pullover und ein paar Halstücher. Doch in der mittleren Schublade waren unter ein paar Hemden drei Gegenstände, die er in derselben Reihenfolge und sogar in demselben Abstand voneinander auf dem Bett ausbreitete, wie er sie vorgefunden hatte. Rechts eine Medaille, in der Mitte ein Foto in einem Metallrahmen, links ein Reisepass. Auf dem Foto waren vier Mädchen in einem Schwimmbecken, sie hatten die Arme umeinander gelegt, zwischen dem einen und dem anderen Paar lag eine Trennleine mit Korkschwimmern. Alle lächelten in die Kamera, und ihre weißen Gummikappen warfen Falten. Er erkannte Andrea sofort, die Zweite von links. Auf der Medaille war ein Schwimmer abgebildet, der in ein Becken sprang, und auf der Rückseite stand etwas auf Deutsch und ein Datum, 1986. Wie alt mochte sie damals gewesen sein – achtzehn, zwanzig? Der Pass brachte die Bestätigung: Geburtsjahr 1967, also war sie jetzt vierzig. Geboren war sie in Halle, demnach war sie Deutsche.
    Und das war’s dann auch schon. Kein Tagebuch, keine Briefe, kein Vibrator. Keine Geheimnisse. Er war verliebt – nein, er dachte daran, sich zu verlieben – in eine Frau, die einmaleine Medaille im Schwimmen gewonnen hatte. Was war schon dabei, wenn er das wusste? Nicht, dass sie jetzt noch schwamm. Und nun fiel es ihm wieder ein, sie war ganz unruhig geworden, als Gary und Melanie sie am Strand ans Wasser gelockt und dann herumgespritzt hatten. Vielleicht wollte sie nicht daran erinnert werden. Oder es war etwas ganz anderes, ob man in einem Wettkampfbecken schwamm oder ein kurzes Bad im Meer nahm. Balletttänzer wollen ja auch nicht so tanzen wie alle anderen.
    Als sie sich an dem Abend trafen, war er absichtlich aufgekratzt, sogar ein bisschen albern, aber sie merkte offenbar etwas, darum ließ er es bleiben. Nach einer Weile fühlte er sich wieder normal. Fast normal jedenfalls. Als er angefangen hatte, mit Mädchen auszugehen, hatte er festgestellt, dass er manchmal plötzlich dachte: Jetzt begreife ich überhaupt nichts mehr. Bei Karen, zum Beispiel: Alles lief gut, völlig zwanglos, sie hatten ihren Spaß, und auf einmal fragte sie: »Und wo soll das jetzt hinführen?« Als gäbe es nur zwei Möglichkeiten: vor den Altar oder zu einem Reinfall. Ein andermal, bei einer anderen Frau, sagte man etwas, irgendwas ganz Normales, und – schwupps – stand einem das Wasser bis zum Hals.
    Sie lagen im Bett, Andreas Nachthemd war um die Taille zu einer dicken Wurst hochgeschoben, er hatte sich inzwischen an das Gefühl an seinem Bauch gewöhnt und machte so ein bisschen rum, da bewegte sie die Beine und zerdrückte ihn fast damit, wie ein Nussknacker, dachte er.
    »Mhm, große starke Schwimmerbeine«, murmelte er.
    Sie sagte nichts dazu, aber er wusste, dass sie es gehört hatte. Er machte weiter, doch er merkte ihrem Körper an, dass sie nicht bei der Sache war. Hinterher lagen sie auf demRücken, und er sagte noch dies und das, aber sie ging auf nichts ein. Na schön, ich muss morgen zur Arbeit, dachte Vernon. Er schlief ein.
    Als er am nächsten Abend ins Right Plaice kam und Andrea abholen wollte, sagte Mrs Ridgewell, sie habe sich krankgemeldet. Er wählte ihre Handynummer, aber sie ging nicht ran, darum schickte er ihr eine SMS . Dann ging er zu ihr nach Hause und klingelte. Er wartete ein paar Stunden, rief noch mal an, klingelte an ihrer Tür, dann schloss er auf.
    Ihr Zimmer war ziemlich aufgeräumt und ziemlich leer. Keine Kleider an der Bilderleiste, keine Fotos auf dem kleinen Frisiertisch. Aus irgendeinem Grund machte er die Mikrowelle auf und schaute hinein; er sah nichts als die runde Platte. Auf dem Bett lagen zwei Umschläge, einer für den Vermieter mit Schlüsseln und Geld darin, soweit er das ertasten konnte, der andere für Mrs Ridgewell. Für ihn nichts.
    Mrs Ridgewell fragte, ob sie Streit gehabt hätten. Nein, sagte er, sie hätten nie Streit gehabt.
    »Sie war ein nettes Mädchen«, sagte die Geschäftsführerin. »Sehr zuverlässig.«
    »Wie ein polnischer Bauarbeiter.«
    »Hoffentlich haben Sie ihr das nicht gesagt. Es ist nicht nett, so
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