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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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von Mutter betrogen zu werden. Wenn er im Haus war, saß Vater allein in seinem Arbeitszimmer, einem kleinen Raum, in den er sich zurückzog, um, wie er vorgab, die Buchhaltung zu machen. In Wirklichkeit aber schrieb er heimlich an der Chronik. Er warf alle Rechnungen, Briefe und Mahnungen ungeöffnet in einen großen Karton. Dieser Karton trieb irgendwann den Fluss hinunter und stürzte über den Rauschen.
    Jahre später, als Hermann zur See fuhr, baute Vater nicht einmal mehr das Vestibül auf, kümmerte sich gar nicht mehr ums Geschäft, alle Arbeit blieb an Mutter und Alma hängen. Das war Anfang der Achtzigerjahre, ich lebte schon nicht mehr zu Hause, auch meine Schwestern hatten es eilig gehabt wegzukommen. Wir alle, bis auf Hermann, wollten nichts mit dem Gewerbe zu tun haben; wir wollten andere Berufe erlernen und dem Schicksal eines Gastwirtes entrinnen. Hierin waren wir uns alle einig.

 
     
     

    Die Barbe (Barbus barbus) hat das lauernde Wesen einer Katze und ist wahrscheinlich mit dem alten Fisch verwandt. Sie lebt am Mittellauf klarer Flüsse auf sandigem oder kiesigem Grund, ist bräunlich gefärbt und schimmert in der Sonne etwas golden. Wenn der große Fisch in ihre Nähe kommt, färben sich ihre Flossen rot, und ihr dicklippiges Maul mit den Bartfäden am Kiefer beginnt vor Furcht zu zittern. In der Dämmerung begibt sie sich auf Nahrungssuche. Im Frühsommer zieht sie in Schwärmen zum Laichen flussaufwärts, und im Spätherbst, wenn das Wasser kälter wird, findet man sie in Scharen in Altwässern, Strömungsbuchten und Stillwasserbezirken, wo sie fast reglos den ganzen Winter über unter dem Eis verharrt.

7
    Mir ist kalt, während ich flussaufwärts am Bahndamm entlang zu den Stromschnellen gehe. Dort angekommen, klettere ich den Hang hinunter zum Wasser und wate langsam und vorsichtig zur Flussmitte. Frühnebel steigt auf, schwebt über Auewiesen die Berghänge hinauf, wo er sich um die Mittagszeit in durchsichtigen Wölkchen und Schleiern über den Baumspitzen auflösen wird. In den frühen Morgenstunden hängen Köcherfliegen an den Unterseiten der Erlenblätter in Ufernähe. Die Köcherfliege hat einen langen schmalen Körper, fast durchsichtige hellgrüne Flügel, die auf dem Rücken giebelförmig zusammengelegt sind. Wenn der leichte Morgenwind die Blätter bewegt, fallen sie noch schlafend aufs Wasser und sind so eine leichte Beute für Forellen, die hier auf ihre Lieblingsspeise lauern.
    Ich benutze eine von Hermann gebundene Fliege. Ihr filigraner Körper ist aus mausgrauer Seide, mit roter Rippung und brauner Hahnenhechel. Gewöhnlich wird so ein Köder nur flussaufwärts geworfen, damit er mit der Strömung auf eine steigende Forelle zutreibt und so eine Beute vortäuscht. Manchmal lohnt es sich jedoch auch, den Köder gegen die Strömung zu ziehen oder ihn sogar leicht aus dem Wasser zu heben, die Forelle reagiert auf diese Art Zeichen.
    «Fische haben ebenso eine Sprache wie Menschen», erklärte Hermann einmal; ich weiß noch, wie Gäste an der Theke über ihn lachten, wenn er solche Dinge von sich gab. Aber vielleicht hatte er recht damit, vielleicht wissen wir nur zu wenig von anderen Lebewesen und Dingen, die uns umgeben.
    Auf dem Fluss glitzern jetzt erste Sonnenstrahlen, und am Ufer zirpen Grashüpfer, mit der Wärme beginnen Insekten über dem Wasser zu tanzen. Ich stehe noch in der Flussmitte, versuche meinen Rhythmus zu finden, Energie zu bündeln, den Takt zu finden, mit dem ich die Flugschnur durch mehrere Vor- und Rückschwünge in der Luft halte, damit der Köder über mir zu schweben beginnt. Beim Vorund Rückschwung beschreibt die Rutenspitze, von oben betrachtet, eine Ellipse, sie beginnt zu tanzen, es scheint, als würde mit der Spitze eine Musik dirigiert, eine leise, verführerische Musik. Schnur, Köder und Rutenspitze scheinen sich getrennt zu haben, sind zu Entitäten in unterschiedlichen Welten geworden, die sich im Idealfall in einer prästabilierten Harmonie befinden und in Wahrheit nur ein Ziel verfolgen, Schönheit und Illusion. Hermann meinte, dass erfolgreiches Fliegenfischen der Sieg des Schwachen über das Starke sei, das Schwache nur die Möglichkeit der Illusion habe. Und da Hermann mich für den Stärkeren hielt, obwohl ich der Jüngere war, meinte er, dass ich die Kunst des Fliegenfischens nie erlernen könne. Aber vielleicht hat es sich jetzt geändert, denn ich komme mir schon lange schwach vor, ich habe zu viele Niederlagen erlebt, um mich
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