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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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auf.
    Ich ging mit Mutter auf ihr Zimmer. Ihre Nachtkommode war mit Binden und Klopapierrollen vollgestopft. An der Wand darüber hing ein Zettel mit Telefonnummern, die Alma ihr aufgeschrieben hatte. Alma war die Einzige, die Mutter noch regelmäßig besuchte. Auf dem Beistelltisch lagen Bücher, Zeitschriften, alte Postkarten, Fotografien von Valentin, ein Rekorder und einige von Hermanns Kassetten, die er von seinen Seereisen geschickt hatte. Früher in der Gaststätte hatte sie sich noch darüber lustig gemacht, hatte gesagt, dass sie das Geschwafel nicht hören wolle. Mutter nahm eine Kassette, legte sie ein und drückte die Abspieltaste, wir hörten Hermanns lispelnde Stimme, die wegen des Lärms der Schiffsmotoren schwer zu verstehen war. Hermann redete von Stürmen, haushohen Wellen, von Containern, die sie geladen hatten und nach China brachten. Ich schaltete den Rekorder aus und versuchte, mit Mutter über Hermann zu sprechen. Sie starrte auf ihr zerrupftes Papiertaschentuch, roch daran und zerknüllte es nochmals, aber sie reagierte nicht. Auch als ich von den Schwestern redete, die ich bald zu Hause treffen wollte, sagte sie nichts, eigentlich hat Mutter nie etwas gesagt, wenn es uns betraf – alles mussten wir uns selber zusammenreimen, unser ganzes Leben ist eine mehr oder weniger von uns selbst erfundene Geschichte, ein Sammelsurium aus Worten und Stimmen, dem Gerede Betrunkener an der Theke unserer Gaststätte.

 
     
     

    Das Herz der Fische ist groß wie eine Fingerkuppe, und es liegt unter den Kiemen. Alle inneren Organe des Fisches, Darm, Leber, Niere, Geschlechtsorgane, liegen in der schützenden Bauchhöhle des Rumpfes, die Schwimmblase in der Körpermitte, mit ihrer Hilfe können Fische im Wasser schweben. Einige Fischarten haben eine zweigeteilte Schwimmblase; im hinteren Teil ist mehr Luft. Die Sauerstoffversorgung erfolgt über die Kiemen. Dazu wird Wasser mit dem Maul aufgenommen und über die Kiemen zu den Kiemendeckeln transportiert. Die blutroten Kiemenblätter nehmen dabei den im Wasser befindlichen Sauerstoff auf und leiten ihn in den Blutkreislauf des Fisches ein.

6
    Nachdem ich Mutter besucht hatte, ging ich zu unserem Gasthaus, einem zweistöckigen Haus mit Verzierungen an der Fassade, von der die Farbe abbröckelt, mit Gästezimmern, kleinen Balkonen, die wie Schwalbennester an der Bruchsteinmauer über dem Fluss kleben. Während der Frühjahrs- und Sommersaison sitzen Sommerfrischler, Motorradfahrer, Angler und Wanderer auf der Terrasse. Als ich gestern ankam, saß dort niemand, die Plastikstühle waren aufeinandergestapelt, und der Fluss, der unter der Brücke hindurchkriecht und an der Terrasse vorbeifließt, schimmerte schattig und roch wie nasses Fell. Ein grüner Kunststoffteppich lag auf der Terrasse, Kübel mit verdorrten Pflanzen standen an der Hauswand. Früher war dort ein Vestibül, eine Art Wintergarten gewesen. Hermann hatte, nachdem er von der Seefahrt nach Hause gekommen war, auf einer seiner Kassetten davon geredet, den Wintergarten wieder aufzubauen. In unserer Jugend hatten wir jedes Frühjahr mit Vater den Wintergarten an die Vorderfront des Hauses montiert, sodass man in der Saison den Gastraum durch diesen Anbau betrat. Als Hermann Jahre nach Vaters Tod vom Dienst auf den Containerschiffen zurückkam, lagen Reste des auseinandergenommenen Vestibüls im Schuppen, Holzpfeiler, Seitenwände und Fensterrahmen waren mittlerweile verrottet, und Hermann hatte kein Geld, um alles zu erneuern.
    Von der Terrasse aus kann man zum Fluss hinuntersehen, bis zur Stelle vor dem Rauschen, wo das Wasser für die Zehnermühle abzweigt. Der Rauschen, so nennen die Leute auch heute noch das Wehr, weil das Wasser dort tosend in die Tiefe stürzt. Davor ist der Fluss breit, dort stehen immer noch große Forellen, die wir als Kinder mit dem Feldstecher vom Vestibül aus beobachteten. Auch gestern stand ich auf der Terrasse und hielt nach den Forellen im Fluss Ausschau, sah sie schließlich vor der Staumauer, zwischen dem dunkelgrünen, in der Strömung schlängelnden Wassergras. Sie lauerten auf Insekten, die, vom Regen aufs Wasser geschlagen, hilflos zappelnd abgetrieben wurden. Ich sah den Rauschen, das herabstürzende schäumende Wasser.
    Früher, während der Saison, hatten viele Angler und Sommerfrischler im Haus übernachtet. Ich schlief dann, wenn alle Zimmer belegt waren, mit Hermann unter dem Dach in einer Mansarde. Wir öffneten abends das Fenster, und der Rauschen
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