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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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ausnutzten. Sie standen an der Theke, tranken, oft war es nur ein harmloses Wort, der Hauch einer Andeutung, mit dem ein Streit vom Zaun gebrochen wurde. Wurde es ernst, erboten sich die Feiglinge, einen auszugeben, sagten, sie hätten das ja nicht so gemeint.
    Hermann und ich lagen nachts oft wach im Bett und hörten diesen Lärm aus der Gaststätte, wir verstanden das Gerede nicht, hatten Angst, warteten darauf, dass es losgehen würde: sie sich prügelten oder Mutter mit einem ihrer Liebhaber die knarrende Treppe zu einem der Gästezimmer hinaufging, dass Vater betrunken genug war, um das nicht mehr ertragen zu können, und Streit mit Mutter suchte, sie schlug, dann nackt durch das Haus jagte, zur Mansarde, sich dort mit ihr einschloss und sie fickte, sie ebenso windelweich fickte, wie er sie zuvor geschlagen hatte. Trotzdem behaupte ich, dass mein Vater ein guter Mensch war. Wenn er keinen Alkohol getrunken hatte, war er ein kluger besonnener Mann, der sich in vielen Dingen auskannte, uns Kinder liebte und uns vieles beibrachte. Ich glaube, Vater trank nur aus Verzweiflung, weil er eine Frau liebte, die vorher einen anderen Mann so sehr geliebt hatte, dass sie jetzt niemanden mehr lieben konnte, die damals in ihm nur einen Vater für ihre zwei unehelichen Söhne gesucht hatte. Wenn Vater betrunken war, wurde er zu einer phantasievollen Furie, steigerte Mutters Eskapaden und Liebschaften ins Unermessliche. Mutter gab niemals klein bei, im Gegenteil, sie provozierte ihn bis zum Äußersten, bis er gewalttätig wurde. Die für mich noch geheimnisvollen Vorgänge nachts im Haus, Geräusche, die von der Gaststätte bis in unser Zimmer drangen, flößten mir schreckliche Angst ein, dann beruhigten mich nur die Geschichten meines Bruders und das Rauschen des Wehrs.

5
    Als ich gestern früh in meinem Heimatort aus dem Zug stieg, um zunächst Mutter im Altenheim zu besuchen, begann es wieder zu nieseln. Ich überquerte die Bahngleise und lief die Straße entlang zum Stift. Die Märktler waren bereits auf der Spiegelstraße. Auf der anderen Straßenseite fuhr der Zug gerade in den Tunnelkopf. Im Café Simon, gegenüber vom Kronen-Hotel in der Fußgängerzone, saßen Wanderer. Auf der Treppe des Kronen-Hotels standen Jungen, einer von ihnen stieg auf sein Moped, ließ den Motor aufheulen, raste ein Stück die Straße hinunter, kreiste um den Sandsteinbrunnen mit dem Wappen der Salms und kehrte zu seiner Clique zurück. Wegen des Markttages hatten die Geschäfte früher als sonst geöffnet. Die Märktler eilten an Bekleidungsgeschäften vorbei, an alten Sandsteinhäusern, an der Gemeindeverwaltung mit dem Touristencenter, ich ging vor dem Marktplatz zum Stiftberg, zum Altenheim hinauf. Ich erwartete nichts von dem Besuch bei Mutter, wusste nur, dass sie einen zweiten Schlaganfall gehabt hatte und seither so krank war, dass sie nicht mehr zu Hause leben konnte. Ich hatte sie, seitdem sie im Stift lebte, nicht mehr gesehen.
    Im Stift angekommen, erkundigte ich mich nach ihr. Sie saß im Aufenthaltsraum, klein und zierlich war sie geworden, hatte kurze graue Haare, unter ihren Haaren sah ich einen entzündeten Grützbeutel, das Kinn hatte sie sich aufgekratzt. In der Hand hielt sie ein zerknülltes Papiertaschentuch, wischte sich damit über den Mund und roch daran. Auf einer seiner Kassetten hatte Hermann erzählt, dass sie anfangs aus dem Altenheim weglaufen wollte, mit einem Rucksack, einem sogenannten Affen mit Kuhfell, wie ihn die Soldaten im Ersten Weltkrieg getragen hatten. Wenn sie so einen Affen hätte, würde sie weglaufen und draußen im Wald schlafen, sagte sie immer wieder und redete nur davon, dass sie Valentin suchen wolle. Sie war dann einmal tatsächlich weggelaufen.
    Mittlerweile schien sie sich an das Heim gewöhnt zu haben. Eine Frau vom Küchenpersonal, die gerade den Frühstückstisch abräumte, nannte Mutter ‹Liebchen›. Mutter gegenüber saß ein Greis, der von Königsberg erzählte, wo er aufgewachsen war, sein Vater sei bei der Post gewesen und habe im Orchester Posaune gespielt. Er zeigte alte Fotografien von Königsberg herum, erzählte, dass sie gegen Ende des Krieges zu einem Onkel nach Koblenz geflohen seien, der eine Tabakfabrik besaß, nach Königsberg sei er nie wieder zurückgekehrt, dort hätten die Russen alles zerstört. Er zeigte Fotos vom alten Bahnhof, vom Marktplatz, vom Kant-Denkmal, vor dem er mit seinem Vater posierte. Plötzlich sagte er Kants ‹Kategorischen Imperativ›
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