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Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Überm Rauschen: Roman (German Edition)

Titel: Überm Rauschen: Roman (German Edition)
Autoren: Norbert Scheuer
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Kies, Liebe, Schotter-, Flint- und Schilfbänke, Spiegel, flaches Gewässer, Kriege, Gradstrecken, Felsbänke, Vorstau, Flusskurven, unterspülte Ufer, überhängende Büsche, versunkene Bäume, Geruch des Wassers, Libellen, schlafende Fische – und immer wieder Kassetten mit der Aufschrift ‹Tresen›; auf denen ist nur ein Gewirr von Stimmen und das Gemurmel von Zehner zu hören, Geschwafel von Betrunkenen, Geräusche vom Kickerspieler, die knarrende Pissoirtür, Räuspern, Husten, Flüstern, Gegröle, Musikboxlieder; Kassetten über die Fischzucht, Milchner, Schwestern, Karibik, Schrottschiffe, Ozeane, unter dem Fluss, geheime Zuflüsse, Überschwemmungen, Rauschen, Ichthys, vom alten Fisch und andere seltsame Dinge. Wenn ich mal eine Kassette hörte, war es wie früher in der Kindheit, als ich im Bett lag und nicht einschlafen konnte, Geräusche aus der Wirtschaft vernahm. Hermann erzählte auf den Kassetten von Forellen, Äschen und Barben, die er mit der bloßen Hand fangen konnte. «Es gibt Fische, die sind so alt wie unser Fluss», sagt Hermann auf einer Kassette. Als ich das hörte, fragte ich mich: «Wie kann ein Wesen so alt wie unser Fluss sein, so uralt?»

 
     
     

    Wahrscheinlich ist dies die Versteinerung des ersten fischartigen Wirbeltieres (Anatolepsis) , das in den seichten Meeren des Kambriums lebte, aus dem sich Millionen Jahre später die ersten Landtiere entwickeln sollten, die mit kräftigen Bauchflossen an Land krochen, Sauerstoff atmeten und deren Nachkommen irgendwann nicht mehr ins Wasser zurückkehrten. Nachkommen, von denen auch wir abstammen könnten. Auch in uns ist vielleicht noch etwas vom Geist dieses Fisches.

3
    Ich stehe angelnd im Fluss, rieche wie früher in der Kindheit das Wasser, Dinge, die der Fluss mit sich trägt, als wäre er eine alte Jacke, deren Taschen vollgestopft sind. Ich frage mich, wieso ich eigentlich nach Hause zurückgekommen bin, denke an unsere Familie, an meine Schwestern, die, als ich gestern früh vom Altenheim kam, wo ich Mutter besucht hatte, zusammen mit Reese in der Küche hinter der Gaststätte auf mich warteten.
    Auf der Fahrt hierher hatte ich lange in Köln im Bahnhofsbistro gesessen, bis endlich um sechs Uhr die erste Regionalbahn in die Eifel fuhr. Ich hoffte, dass ich meinem Bruder irgendwie helfen könnte. Als ich in den Zug stieg, war ich etwas betrunken. Ich hatte Alma zwar versprochen zu kommen, wollte aber eigentlich nichts mehr mit meiner Familie zu tun haben, einer Familie, die, so weit man es zurückverfolgen kann, schon immer in der Eifel gelebt hat. Tante Reese hatte uns früher einmal erzählt, dass nur zwei Männer aus der Familie diesen Landstrich verlassen hatten, das waren zum einen mein Onkel Jakob Arimond, der im Krieg nach Sibirien verschleppt worden, dort aus einem Gefangenenlager geflohen und zu Fuß bis nach Hause zurückgelaufen war, zum andern mein Bruder Hermann, der nach Jahren als Seemann auf allen Ozeanen dieser Erde auch wieder zurückgekehrt war.
    Anfangs waren unsere Vorfahren Bauern gewesen, die nebenher eine Gastwirtschaft betrieben. Als Ende des 19. Jahrhunderts die Bahnlinie durch die Eifel gebaut wurde, die von Köln bis Trier an den Flüssen Urft und Kyll entlangführt, gaben sie die Landwirtschaft auf. Zunächst lebten sie von den Arbeitern, die von überall her kamen, um den Westwall und die Stauseen zu bauen. Nach dem Krieg logierten in der Gaststätte meist amerikanische Soldaten, die in Prüm und an der Airbase bei Bitburg stationiert waren, zuletzt Handelsvertreter, Sommerfrischler und Angler, die bei uns einkehrten, um in unserem Fluss zu angeln.
    Während ich noch unterwegs nach Hause war, weckte Alma die ersten Angler, sie standen auf, zogen sich an, gingen in Wathosen durch den Flur, auf dem sich auch Hermanns Zimmer befindet, mit schleppenden, knarrenden Schritten das muffige Treppenhaus hinunter und frühstückten in der Gaststätte. In meiner Kindheit war ich immer aufgewacht, wenn die Angler frühmorgens den Flur hinuntergingen und sich leise über die besten Fanggründe unterhielten. Hermann war schon lange vor den Anglern am Fluss. Ich holte mir seinen Schlafanzug, legte ihn auf mein Kopfkissen und roch daran: Wassergras, moosige Steine, versunkenes Laub – mit diesen Gerüchen schlief ich wieder ein, träumte, ich würde im Fluss treiben, träumte von Nixen und seltsamen Wasserwesen, bis Alma sich über mich beugte, mir ins Ohr hauchte, dass ich aufstehen und zum Frühstück kommen
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