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Überlebensübungen - Erzählung

Überlebensübungen - Erzählung

Titel: Überlebensübungen - Erzählung
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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die
Anführer von Widerstandsnetzen angesichts der Ungewissheit ihres Schicksals während einer Diskussion mit nachfolgender Abstimmung diejenigen ausgewählt, die man um jeden Preis zu retten versuchen sollte. Diese drei oder vier, wenn meine Erinnerungen nicht trügen – auf jeden Fall Stéphane Hessel und Yeo-Thomas, ein britischer Offizier der Royal Air Force –, wurden administrativ für tot erklärt, überlebten jedoch mit der Identität ebenso vieler wirklicher Leichen jener Tage. Ein solcher Austausch von Identitäten zwischen echten und falschen Toten, der für jeden Häftling in jedem Augenblick an sich schon schwierig und riskant war, wurde theoretisch nahezu unmöglich im Fall von besonders überwachten Häftlingen wie denen in einem Isolierblock.
    Dieser Kraftakt wurde jedoch von der deutschen Untergrundorganisation erfolgreich durchgeführt, geleitet von den Kommunisten, aber diesmal mittels der entscheidenden Intervention von Eugen Kogon, einem christdemokratischen Häftling, der den strategischen Posten des Sekretärs des Chefarztes von Buchenwald einnahm, des SS -Sturmbannführers Ding-Schuler, den er manchmal – vor allem seit ein Sieg der Alliierten immer wahrscheinlicher wurde –, jedoch stets unter Lebensgefahr, zu beschwichtigen, zu überzeugen oder zu manipulieren vermochte. 
    Nach und nach aber wurden die Häftlinge der Sonderliste, die bisher isoliert waren, aus Gründen, die uns verborgen blieben, in verschiedene Blocks des Großen Lagers geschickt und Arbeitskommandos zugeteilt.
    Und eines Tages hatte ich eine neuerliche Notiz der Politischen Abteilung in die Zentralkartei zu übertragen. Der
Häftling Henri Frager war dem Block 42 zugeteilt worden. Noch am selben Abend, nach dem Appell, stellte ich mich vor ihn. Trotz seines kahlgeschorenen Schädels und seiner disparaten Kleidungsstücke erkannte ich »Paul« sofort. Er sah mir in die Augen, offensichtlich auf der Hut. Niemals habe er das Pseudonym »Paul« getragen. Er leugnete es kategorisch. Nein, er kenne diese Botschaft aus London nicht, »Pauls Möbel treffen heute Abend ein«. Er wisse nicht, dass das Fallschirmabwürfe ankündigte. Und warum auch hätte er Radio London hören sollen? Kurz, man musste ihm weit mehr Details bieten, ihm von der Avenue Niel erzählen, vom Trottoir gegenüber den Magasins Réunis, von »Tancrède«.
    Da hellte sein Gesicht sich plötzlich auf, und er rief:
    »Gérard, Sie sind Gérard!«
    Ich war Gérard, in der Tat.
    Aber sein Gesicht wurde wieder ernst.
    »›Tancrède‹ ist tot«, sagte er.
    Und er fügte hinzu:
    »Heldenhaft!«
    Mich wunderte nichts. Weder dass er tot war noch dass dieser Tod heldenhaft gewesen war.
    In der lärmenden Menge von Block 42, kurz vor den Pfiffen des Lagerschutzes, die die Sperrstunde verkündeten, erzählte mir Frager von »Tancrèdes« Tod.
    Einige Tage später, an einem Sonntagnachmittag, befanden wir uns in der Baracke der Arbeitsstatistik. Er fragte mich, ob »Tancrèdes« Beschreibung mir etwas genützt habe.
    Ja, in gewisser Hinsicht. Dank seiner minutiösen Auf
zählung hätte ich tatsächlich gewusst, was ich zu erwarten, woran ich mich zu halten hatte. Es sei immer wichtig zu wissen, was man zu erwarten hat. Aber es sei auch ein abstraktes Wissen, sagte ich.
    »Jedenfalls«, kommentierte Frager, »auch wenn ich Ihren Aufenthalt bei der Gestapo nicht im Detail kenne, so kenne ich doch das Resultat: niemand ist Ihretwegen verhaftet worden, wir haben nichts verändern müssen, weder die Briefkästen noch das System der Bergungstreffen, noch die Waffenverstecke! Tadellos, Gérard!«
    Mir gefiel, wie er das sagte, bescheiden, im Tonfall einer Feststellung, ohne Pathos und ohne Schwulst.
    Doch es ließ uns an dasselbe denken.
    »Und Alain?«, fragte ich.
    »Gerade wollte ich von ihm sprechen …«
    Er bleibt stumm, schließt die Augen, öffnet sie wieder, sieht mich an.
    »Wir waren gezwungen, ihn hinzurichten!«
    Alain war einer der regionalen Anführer von Jean-Marie Action, er war es, der das Gebiet kontrollierte, in dem wir arbeiteten, Michel H. und ich. Wir waren zu der Überzeugung gelangt, dass Alain ein Verräter war. Von Anfang an ins Netz geschleust? Später von der Gestapo verhaftet und umgedreht? Doppelagent? Worin auch immer die Ungewissheit im Einzelnen bestehen mochte, ein Bündel übereinstimmender Zeichen hatte uns seit einiger Zeit gewarnt. Michel H. hatte bereits mit »Paul« darüber gesprochen, der bestimmte elementare
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