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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt
Autoren: Robert Spaemann
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bildete sich mein »politisches Weltbild« heraus. Es war ein katholisch-konservatives Weltbild. Ich sympathisiertemit autoritären Entwürfen wie dem österreichischen Ständestaat, dessen Anhänger sich ja als einzige politische Gruppe – im Gegensatz zu den Sozialisten – dem »Anschluss« widersetzten, und sogar mit dem General Franco, der dem Priestermorden und Klösterbrennen ein Ende machte. Die »Grands cimetières sous la lune« von Bernanos, die den Bruch dieses Royalisten mit der Rechten markierten, waren bei mir noch nicht angekommen. Meine damalige Sympathie wurde freilich später entschuldigt, als ich sah, dass Franco – zur Wut Hitlers – sein Land aus dem Zweiten Weltkrieg heraushielt und dass er die spanische Botschaft in Budapest zur Ausstellung zahlreicher Pässe und Visa an ungarische Juden anwies, was ihm nach dem Krieg den offiziellen Dank einer Abordnung des Weltrates der Juden eintrug. Das Verhalten gegenüber den Juden war für mich der augenfälligste Beweis für die unchristliche Barbarei des NS-Regimes. In der Volksschule mussten wir an nationalen Feiertagen auf den Schulhof heraustreten und die unsäglichen Lieder singen. Eines der Lieder hatte einen Refrain, der irgendetwas wie »Juden raus« enthielt. Neben mir stand ein »halbjüdischer« Mitschüler, der den Refrain natürlich nicht über seine Lippen brachte. Ich brachte ihn auch nicht über die meinen und fragte mich, was das für Menschen sind, die ein solches Lied schreiben können. Meine späteren politischen Optionen waren eigentlich immer von dieser Art »Konkretismus«, wie meine marxistischen Freunde herablassend bemerkten. Ein solches konkretes Schlüsselerlebnis gehört hierher, das mich im eigentlichen Sinne wirklich politisiert hat. Es war, im Unterschied zu der Verweigerung des antisemitischen Refrains, das Erlebnis einer unwürdigen und beschämenden Kapitulation.
    Ich war auf der Heimfahrt vom Gymnasium nach Hause. Es war die kurze Zeit, in der Juden einen Stern tragen mussten, aber die öffentlichen Verkehrsmittel noch benutzen durften.Ein würdiger alter Herr mit Judenstern saß in der Bahn. An der nächsten Station stieg ein junger Mann in die Bahn, sah den Alten und schnauzte ihn an, er solle gefälligst aufstehen und als Jude nicht einen Sitzplatz in Anspruch nehmen, wenn andere Leute stehen müssten. Der alte Herr stand wortlos auf. Der junge Schnösel setzte sich auf seinen Platz.
    In diesem Augenblick war mir bewusst – ich war damals immerhin schon 14 –, dass es jetzt nur eine anständige Weise des Verhaltens geben könne, nämlich aufzustehen und dem Herrn meinen Platz anzubieten. Ich tat das nicht. Ich blieb sitzen. Ich hatte Angst. Bis heute schäme ich mich. In diesem Augenblick erfasste mich eine ungeheure Wut – eine Wut gegen die, die es fertiggebracht hatten, mich zu diesem unwürdigen Sitzenbleiben, zu diesem Sieg der Feigheit, zu veranlassen. Auch 14-Jährige haben ein Gewissen.
    Bald darauf verschwanden die Leute mit dem Stern. Sie wurden in den Osten deportiert. Das Gerücht wurde ausgestreut, sie würden dort Arbeitseinsatz für die Kriegsindustrie machen. Die Leute ohne Stern glaubten diesem Gerücht nur zu gern. Es gab in der Mehrheit des Volkes eigentlich nicht so etwas wie Judenhass. Das Regime wusste gut, dass es die Menschen in Deutschland nicht mit der nackten Wahrheit über die Judenermordung konfrontieren durfte. Die Leute wollten es einfach nicht wissen. Ihre Schuld war nicht Hass und Mordlust, sondern Gleichgültigkeit und Feigheit. Ich wollte es aber nun wissen. Ich glaubte dem Gerücht nicht. Und ich habe dann wie ein Agent Informationen gesammelt, in erster Linie indem ich Soldaten, die aus dem Osten zum Heimaturlaub kamen, ausfragte, ob sie nicht in Polen Juden gesehen hätten und was sie darüber erzählen konnten. Nach einem halben Jahr wusste ich Bescheid. Ich wusste, dass sie vergast wurden.
    Wenn die Leute nach dem Krieg sagten, sie hätten dasnicht gewusst, so ist das die Wahrheit. Aber warum wussten sie es nicht? Sie wollten es nicht wissen. Ich habe einmal Carl Friedrich von Weizsäcker davon erzählt. Er fragte mich, wieso ich als 17-Jähriger etwas gewusst hätte, was er, als Sohn des damaligen Staatssekretärs Weizsäcker und als Atomforscher, nicht gewusst hat. Ich konnte ihm nur sagen, dass er eben keine derart agentenartigen Recherchen wie ich angestellt hatte. Und zu seiner Entschuldigung fügte ich hinzu: Für mich hatte dieses Wissen keine unmittelbaren
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