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Über das Haben

Über das Haben

Titel: Über das Haben
Autoren: Harald Weinrich
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    – Demnach IST eine vorzügliche, eine reiche Individualität und besonders sehr viel Geist zu HABEN , ohne Zweifel das glücklichste Los auf Erden.
    Die Beharrlichkeit, mit der Schopenhauer diesen engen Zusammenhang von SELBER-SEIN und AN-SICH-SELBER-HABEN in seinen Aphorismen zur Sprache bringt, legt die Auffassung nahe, dass er sich mit jenem Typus, dessen SEIN die Natur in intellektueller Hinsicht so «reich ausgestattet HAT », in erster Linie selber angesprochen hat. Er hat es aber sicher nicht getan, um mit seinen individuellen Geistesgaben zu prahlen, sondern um als unbestechlicher Menschenbeobachter, nicht anders als es Montaigne beispielhaft in Frankreich getan hat, das SEIN und das HABEN derjenigen Person zu beschreiben, die er am besten von allen Menschen kennt: sich selber. Und so kann er auch an sich selber am besten vor aller Öffentlichkeit «testen», ob seine eigene Lebensführung den folgenden anthropologischen Lehrsatz bestätigt, dass nämlich «der mit überwiegenden Geisteskräften ausgestattete Mensch ein gedankenreiches, durchweg belebtes und bedeutsames DASEIN » zu leben in der Lage ist.
    Gerade in dieser Hinsicht flößt ihm jedoch das eigene Dasein einigenZweifel ein. Denn mit dem «Eigenglück» steht es bei dem notorischen Pessimisten Arthur Schopenhauer nicht zum Besten. Zwar bleibt er in seiner eigenen Lebensführung von der standesgemäßen Langeweile verschont, unter der zu seiner Zeit so viele Menschen seines Ranges leiden. Da ist ihm zweifellos eine Wohltat der Philosophie zuteil geworden, durch die er zum ständigen Lernen und Weiterlernen motiviert worden ist. Aber es gab da bei ihm noch die bedrückende Einsamkeit, unter der er als Single oder «Hagestolz», wie man damals sagte, viel mehr litt, als er sich selber und seinen Lesern zugeben wollte. Sie machte ihm in seinem täglichen Leben arg zu schaffen. Hätte ihn denn da nicht der lebenskundliche Ratgeber, der er selber in seinen Aphorismen war, auf den Gedanken bringen können, eine Frau zu HABEN , Kinder zu HABEN , viele Freunde zu HABEN ? Solche Gedanken sind ihm auch wohl hin und wieder gekommen, doch sind sie immer schnell an seinem misanthropischen Geist vorbeigezogen. So bezeugt es auch in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit der letzte Absatz in der Rubrik «Was einer HAT ». Der Textabschnitt lautet: «Zu dem, was einer HAT , habe ich Frau und Kinder nicht gerechnet; da er von diesen vielmehr GEHABT WIRD .» Da hat doch tatsächlich der Sprachkünstler Schopenhauer eine Sprachform, die es nach den Normen der deutschen Grammatik gar nicht geben dürfte, nämlich das Passiv des Verbs HABEN , herbeizitiert, um einen absonderlichen Sachverhalt auszudrücken, den es nach den Normen der Lebenskunst nicht geben dürfte, aber in seiner eigenen Lebensführung offenbar doch gegeben hat.
    Hinzu kam die vertrackte Sache mit dem Geld – ein heikles Thema für diesen Moralisten. Arthur Schopenhauer war von Hause aus ein wohlhabender Mann. Anders allerdings als beim Landadel bestand sein Reichtum nicht in solidem Grundbesitz, sondern in marktabhängigen Wertpapieren, die bei dem Danziger Handelshaus A. L Muhl angelegt waren. Um ein Haar wäre ihm da sein Vermögen bei einer Wirtschaftskrise verloren gegangen. Aber als bürgerlich lebender Mensch und Lehrer der Lebens- und Weltweisheit hatte der Philosoph Arthur Schopenhauer dringend dieses Vermögen nötig, um in Ruhe und Muße nachdenken und seine Lehre in literarische Form bringen zu können. Er brauchte also, um es mit seinen Worten aphoristisch zugespitztauszudrücken, den «äußeren Reichtum», um seinen «inneren Reichtum» ausschöpfen zu können.
    Doch wie war diese irgendwie peinliche Paradoxie zu rechtfertigen? Zum Glück für seine eigene Lebensführung hat sich nach langer Zeit des Wartens bei dem pessimistischen Philosophen noch rechtzeitig genug der mühsam verdiente Publikumserfolg eingestellt, zuerst für sein Beiwerk, dann auch für sein Hauptwerk. Der Erfolg bezeugte nunmehr vor aller Augen, dass hier ein Mensch zwar vom Glück so weit begünstigt war, dass er «seinem Genius leben» konnte, doch war diese Privilegierung reichlich gerechtfertigt durch das Werk, das er der Öffentlichkeit vorlegen konnte: «Der Menschheit wird er seine Schuld dadurch hundertfach abtragen, dass er leistet, was kein anderer konnte, und etwas hervorbringt, das ihrer Gesamtheit zugute kommt, wohl auch gar ihr zu Ehre gereicht.»

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DAS HAUS DES SEINS UND DER HOF DES
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