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Über Boxen

Über Boxen

Titel: Über Boxen
Autoren: Joyce Carol Oates
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fünfundvierzig Sekunden kurz sein kann – ein Titelkampf zumindest stellte diesen Rekord einmal auf!) mit der Veröffentlichung eines Buches vergleichen. Was an diesem Prozess «öffentlich» ist, ist allein das letzte Stadium, dem eine langwierige, mühsame, erschöpfende und oft zur Verzweiflung treibende Zeit der Vorbereitung vorausgeht. Tatsächlich ist einer der Gründe für die Anziehung, die das Boxen auf sehr ernst zu nehmende Schriftsteller (von Swift, Pope, Johnson über Hazlitt, Lord Byron, Hemingway bis zu Autoren unserer Tage wie Norman Mailer, George Plimpton, Ted Hoagland, Wilfrid Sheed, Daniel Halpern und andere) 10 häufig ausübt, die Systematik, mit der man bei diesem Sport lernt, Schmerzen zu ertragen, um ein Ziel, ein Lebensziel, zu erreichen: die willentliche Verwandlung der Empfindung, die wir als Schmerz kennen (als physischen, psychischen, emotionalen Schmerz), in ihr genaues Gegenteil. Wenn dies Masochismus ist – und ich bezweifle, dass es nur simpler Masochismus ist –, dann braucht es dazu auch Intelligenz, List und strategisches Talent. Es ist ein Akt vollendeter Selbstbestimmung – die dauernde Wiederherstellung der Parameter des eigenen Selbst. Um zu akzeptieren, ja sogar herauszufordern, was einer, der seine fünf Sinne beisammenhat, normalerweise vermeidet – Schmerz, Demütigung, Verlust, Chaos –, muss man den gegenwärtigen Augenblick als gewissermaßen bereits vergangen erleben. Hier und jetzt sind dann nur Aspekte von dort und dann: Der Schmerz herrscht jetzt, aber er wird unter Kontrolle gebracht, und das ist Teil des späteren Triumphs. Und selbst der Schmerz durchläuft eine wunderbare Verwandlung, weil er in einem bestimmten Zusammenhang steht. Man könnte sagen, dass «Zusammenhang» eigentlich alles ist.
    Der Schriftsteller George Garrett, der vor einigen Jahrzehnten ein Amateurboxer war, 11 erinnert sich an sein Training:
    Ich lernte einiges … über die Bruderschaft der Boxer. Die Gründe, aus denen heraus die Leute mit diesem brutalen und oft selbstzerstörerischen Sport anfingen, waren vielfältig, meist waren sie höchst antisozial und grenzten ans Psychotische.
    Die meisten der Kämpfer, die ich kannte, waren tief verletzte Persönlichkeiten, die ein überwältigendes Bedürfnis hatten, andere ebenfalls zu verletzen, auch wenn sie ihr eigenes Leben dabei aufs Spiel setzten. So begannen sie. In fast allen Fällen verlangte der Sport dann so viel Selbstdisziplin und Können, erforderte so viel Konzentration, dass die ursprünglichen Motive in den Hintergrund traten, oft vergessen wurden und sich vollständig verloren. Es ist bekannt, dass viele gute und erfahrene Boxer sanfte und freundliche Menschen sind … Ihre Aggressivität ist auf den Ring beschränkt. Und selbst im Ring ist es gefährlich, zu viel Zorn zuzulassen. Es kann stimulierend sein, verbraucht aber viel Energie. Es ist unpraktisch, im Dauerzustand wütend zu sein.
    Rocky Marciano (noch immer der einzige ungeschlagene amerikanische Schwergewichtschampion) scheint der Boxer gewesen zu sein, der mit der größten – einer fast mönchischen – Hingabe trainierte. Seine Trainingsmethoden waren legendär. Im Gegensatz zu so unbekümmerten Kämpfern wie Harry Greb, «der menschlichen Windmühle», der seine Kondition erhielt, indem er dauernd in den Ring stieg, zog sich Marciano vor einem Kampf an die drei Monate von allem, selbst von seiner Familie, zurück. Neben einem erschöpfenden körperlichen Training und einer zwanghaften Beschäftigung mit Ernährung, Gewicht, Muskeltonus konzentrierte sich Marciano in dieser Zeit nur auf eins: auf den bevorstehenden Kampf. Jede Sekunde seiner Zeit war auf den Beginn des Kampfes ausgerichtet. Im Trainingscamp wurde der Name des Gegners nie laut geäußert, man sprach auch nicht über Boxen allgemein. Im letzten Monat vor dem Kampf schrieb Marciano nicht einmal mehr Briefe, denn diese hätten ihn mit der Außenwelt in Kontakt gebracht. Während der letzten zehn Tage empfing er keine Post, telefonierte nicht und traf niemanden. Eine Woche vor dem Kampf gab er niemandem mehr die Hand, fuhr kein Auto mehr, auch nicht kürzeste Strecken. Kein Wechsel im Essen! Kein Gedanke an die Zeit nach dem Kampf! Alles, was nicht mit dem Kampf zu tun hatte, musste aus dem Bewusstsein verbannt werden. Wenn Marciano am Sandsack arbeitete, sah er seinen Gegner vor sich, wenn er joggte, sah er seinen Gegner neben sich, zweifellos sah er ihn auch im Schlaf – wie der
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