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Über Bord

Titel: Über Bord
Autoren: Ingrid Noll
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Bruder sei Entschuldigung genug, aber sie sah das anders. Ärgerlich verzog er sich in sein Arbeitszimmer, um Ellen anzurufen, aber auch da stieß er auf keine Begeisterung.
    »Was will er bloß von uns, dieser fremde Mensch?«, fragte sie. »Wir sind doch schon fünf, einen sechsten brauchen wir nicht.«
    »Mein Gott, er ist als Einzelkind aufgewachsen! Würdest du es an seiner Stelle nicht auch als wunderbares Geschenk empfinden, wenn du sozusagen über Nacht Geschwister bekämest?«
    »Ich wäre viel lieber ein Einzelkind«, behauptete Ellen. »Als Jüngste hat man doch immer das Nachsehen.« Sie legte verärgert den Hörer auf.
    Sie ist immer noch so theatralisch wie als Teenager, dachte Matthias. Stets hat sie überreagiert und uns eine Szene gemacht. Die leidige Geschichte mit ihrem Ex, diesem unseligen Adam Szczepaniak, hat sie mit einer solchen Vehemenz beendet, dass der arme Kerl bis heute noch seine Wunden leckt. Als er daran dachte, wie Ellen die Brille ihres Mannes in den Vorgarten warf, so dass der spärlich bekleidete, halbblinde Adam mitten in einer eisigen Nacht nach draußen lief, sie dann die Tür versperrte und erst wieder öffnete, als die Polizei anrückte, musste er trotzdem ein wenig grinsen. Geschah ihm irgendwie recht, fand er, denn Adams Affäre mit seiner Tochter konnte auch Matthias nicht verzeihen.
    Amalia war an einem Samstagabend natürlich nicht zu Hause, und mit ihrer Mutter konnte Ellen leider nicht über Gerd Dornfeld reden. Eigentlich hatte Matthias ja versprochen, den Seitensprung ihres Vaters als absurde Behauptung zu entkräften, nun hatte er genau das Gegenteil erreicht. Seiner Meinung nach ging es diesem Gerd nicht um Geld, sondern um eine freundschaftliche Beziehung zu seinen neuen Verwandten. War dieser Mann so einsam, dass er das nötig hatte? War es nicht am Ende eine besonders raffinierte Form für eine großangelegte Gaunerei?
    Schlecht gelaunt ging Ellen in die Küche, machte sich über einen Rest kalter Quarkkeulchen her, die sie mit reichlich braunem Zucker bestreute, und verfluchte sich dafür. In ihrem Alter musste man höllisch aufpassen, dass man nicht über Nacht ein paar Pfunde mehr auf die Waage brachte. Allmählich werde ich zu einem ungerechten, klimakterischen alten Weib, dachte sie, denn eigentlich hat mir Gerd Dornfeld ja nichts getan, eigentlich war er weder unverschämt noch arrogant, vielleicht sogar ganz nett. Fast tat es ihr nun leid, dass sie sich bei seinem Besuch so ruppig aufgeführt und jetzt auch ihren Bruder brüskiert hatte.
    Plötzlich stand ihre Mutter hinter ihr, die lautlos in Pantoffeln aus der oberen Wohnung heruntergekommen war. Ellen hasste dieses heimtückische Anschleichen.
    »Ist das Kind noch nicht zu Hause?«, fragte sie, und Ellen ärgerte sich noch mehr.
    »Mit 24 ist man kein Kind mehr«, antwortete sie. »In diesem Alter hattest du längst selber Kinder. Amalia ist seit sechs Jahren volljährig und kann tun und lassen, was sie will!«
    »Ja, die Zeit vergeht«, sagte Hildegard. »Hoffentlich fällt sie nicht auf die Nase mit diesem unsäglichen Uwe.«
    Jetzt wurde Ellens gereizter Ton fast aggressiv. »Du hast mir neulich selbst erzählt, dass du mit Papa auch nicht immer zufrieden warst«, sagte sie. »Aber immerhin hatte er Geld, das hat Uwe nicht. Doch abgesehen davon kann man nichts an dem Jungen aussetzen. Im Übrigen geht es dich gar nichts an, mit wem meine Tochter ihre Nächte verbringt. Nicht jeder kann das große Los ziehen, hast du etwa ständig nur Glück gehabt?«
    »Ich weiß nicht, worauf du anspielst«, sagte ihre Mutter und verzog sich gekränkt.
    Irgendwie kann ich es keinem recht machen, dachte Ellen, weder mit Mutter, noch mit meinen Geschwistern oder Töchtern erlebe ich viel Freude, mit Männern klappt es sowieso nicht. Und beruflich gab es auch nur Leerlauf und öde Routine. An-, Ab- und Ummeldungen, Pässe sowie Personalausweise ausstellen und die unerquicklichen Auseinandersetzungen mit Ausländern, die weder Deutsch noch Englisch sprachen. Neulich, als sie eine Aufenthaltsgenehmigung verweigern musste, bekam sie doch tatsächlich ein »Nazischwein« an den Kopf geworfen. Hatte sie sich das selbst zuzuschreiben, weil sie sich ungeduldig und gereizt mit dem armen Kerl auseinandergesetzt hatte? Doch sie musste sich schließlich an die Bestimmungen halten, auch wenn es ihr im Einzelfall selbst nicht besonders menschenfreundlich vorkam.
    Ellen nahm drei Dragees Baldrian-Hopfen und legte sich ins
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