Typisch Mädchen
lernen und merken Mädchen auf diese Weise, daß es eigentlich nicht viel nützt, einen eigenen Willen zu haben, wird er doch sowieso nicht akzeptiert. Er kann von Schorschi problemlos übergangen werden, die Erwachsenen reagieren nicht. Für diesen Fall ist den Kindern von den Erwachsenen keine Norm vorgegeben, also ist Schorschis Verhalten in Ordnung. Diesen Schluß zu ziehen liegt für die Kinder, Bub und Mädchen, doch auf der Hand.
Erst nach einem Jahr führen wir für Anneli den Slogan ein: »Wenn ein Mädchen das nicht will, will es das auch nicht«, und von diesem Zeitpunkt an setzt sie sich mit größerer Vehemenz als vorher durch.
Anneli und ich sind mit Christa und Schorschi zusammen. Schorschi ist, wie seine Mutter selbst auch sagt, in seiner Entwicklung nicht so weit wie Anneli.
Wir spielen mit den Kindern. Ich setze eine Pappmachemaske auf, die einen kleinen Bären darstellt. Die Maske ist in keiner Weise furchteinflößend. Als Anneli die Maske sieht, flüchtet sie sich zu Christa auf den Schoß, steckt den Kopf in deren Arme, drückt sich eng an sie und lugt nur noch mit einem Auge auf die maskierte Mutter.
Schorschi steht mir gegenüber, bleibt da auch stehen, neigt seinen Kopf zu meinem, bis er mit seiner Stirn an meine stößt. Dann zerrt er an meinen Haaren. Als er merkt, daß sich nichts bewegen läßt, zieht er an der Maske. Nach einer Weile gelingt es ihm tatsächlich, die Maske zu verschieben, so daß ich wieder zum Vorschein komme.
Mich erinnert die Szene an einen Fasching, bei dem ich mit einer balinesischen Affenmaske verkleidet auftauchte und mich niemand erkannte. Während dieses Festes grausten sich alle Mädchen vor meiner Erscheinung, wandten sich ab oder schrien erschreckt auf. Die Buben dagegen gingen auf mich zu, versuchten - auch mit Gewalt - die Maske zu entfernen oder sonst irgendwie wenigstens das Geschlecht dieser Erscheinung festzustellen, etwa durch Griffe an Hintern oder Busen.
Aufgrund dieser Erfahrung bin ich zunächst dazu bereit, das Verhalten von Anneli als typisches Mädchenverhalten zu interpretieren und Schorschi als den »richtigen« Buben zu sehen. Ich stehe vor einem Rätsel und kann mir dieses Verhalten wieder einmal nicht erklären. Ist das denn nun wirklich angeboren? Mir fällt das Geschehen am Nikolaustag wieder ein. Mir kommt folgender Gedanke: Jede Pädagogin und jeder Pädagoge weiß, daß es bei Kindern Phasen gibt, in denen sie gesteigerte Phantasie entwickeln und deshalb leichter Angst bekommen, Gefahren sehen, wo kleinere Kinder noch völlig unbefangen sind.
Ich hatte noch nicht daran gedacht, das Verhalten der beiden Kinder unter diesem Aspekt zu betrachten. Für Schorschi -noch ohne stärker entwickelte Phantasie - war der Weg direkt, das heißt, er wollte das Ding entfernen, das meinen
Kopf verbarg. Für Anneli stellte sich aufgrund der Phantasie die Mutter plötzlich als anderes Wesen dar, sie sah mich nicht mehr, sondern nur den Bären. Sie spielte mit, aber da ihr dieses Spiel fremd war, begann die Fluchtbewegung zum Bekannten, zu Christa. Schorschi konnte das Spiel noch nicht spielen, weil seine Phantasie noch nicht so weit entwickelt war.
Ich überlege, wie oft es wohl bei allen Kindern passiert, daß entwicklungsbedingtes Verhalten von den Erwachsenen als geschlechtsspezifisches Verhalten uminterpretiert wird. Dies kann natürlich nicht ohne Einfluß auf das Kind bleiben, wenn es bei entsprechenden Verhalten die mehr oder weniger anerkennenden Kommentare der Mutter hört (siehe Beispiel vom 6.Dezember 1982). Diese - wenn auch falsche - Interpretation führt dazu, daß das Kind noch mehr als Mädchen oder als Bub »klassifiziert« wird, und um so mehr verstärken sich die Tendenzen, das Kind auch als Mädchen oder als Bub zu behandeln (siehe Beispiel vom 27. September 1983). 5
12, Februar 1983 (1Jahr, 6 Monate)
Zur Tagesschau ist das Fernsehgerät eingeschaltet, Anneli sieht zu und stellt nach kurzer Zeit fest: »Mann redet.« Sie spielt weiter und wendet sich vom Fernsehgerät ab. Nach fünf Minuten sieht sie wieder hin. Sie stellt fest: »Mann redet.« Es stimmt!
So geht es während der ganzen Tagesschau weiter. Etwas später kommt eine Diskussion zu den anstehenden Bundestagswahlen, die ich unbedingt sehen möchte. Obwohl ich sonst in Gegenwart des Kindes nicht fernsehe, ist mir diese Sendung zu wichtig, um auszuschalten. Anneli sieht also gelegentlich hin. Es ist eine Runde von Männern mit einer Frau. Anneli konstatiert mehrmals
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