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Tricontium (German Edition)

Tricontium (German Edition)

Titel: Tricontium (German Edition)
Autoren: Maike Claußnitzer
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und den Malereien auf Asris Truhenbänken, abgesehen davon, dass er unbestreitbar echt und dazu schneeweiß war, dabei aber so durchscheinend wie ein Gespenst.
    Ardeija fiel der Tiergeist ein, den Remigius gesehen haben wollte, ohne eine Bezeichnung für ihn zu haben, und er wusste, dass er selbst den Namen des Tigers kannte. Denn es war nicht irgendein Geist, der nun vor ihm stand, mit dem Schwanz schlug und ihn abwartend ansah.
    »Großer Khan«, flüsterte Ardeija und vergaß ganz, dass er wohl in Asris Muttersprache hätte fragen sollen. »Bist du gekommen, um uns zu rächen?«
    Der Tiger verstand ihn; er neigte den mächtigen Kopf wie zu einem Nicken.
    Ardeija fror. »Ich danke dir«, sagte er, wie man es sagen musste, wenn der Tigerkhan einem die Ehre erwies, zu helfen oder zu rächen, »aber du kannst Asgrim nicht auffressen. Das wäre sehr unchristlich … Gerade, nachdem er meinen Vater hat gehen lassen.«
    Der Tiger sah ihn enttäuscht an und ließ traurig den Schwanz hängen. Gjuki, der sich vor dem fremden Wesen kein bisschen zu fürchten schien, schimpfte laut, als sei auch er nicht ganz einverstanden.
    »Doch es spricht sicher nichts dagegen, ihn gründlich zu erschrecken«, fuhr Ardeija fort, »am besten, wenn er schon aus der Stadt hinaus ist … Wenn auf der Burg alles in Angst gerät, könnten zu viele andere zu Schaden kommen.«
    Das schien dem Tiger schon eher zu behagen; er bleckte die Zähne, wie um zu zeigen, was den Fürsten vom Brandhorst erwartete, strich zum Abschied dicht an Ardeija entlang und war dann mit einem geschmeidigen Sprung durch die nächste Hauswand verschwunden, als wäre er nie da gewesen.
    Ardeija sah lange die feste Mauer an, durch die der Tigergeist sich entfernt hatte.
    »Ist es sehr schlimm, wenn ich hoffe, dass er nicht auf mich hört?«, fragte er schließlich.
    Theodulf hob die Schultern. »Mich darfst du das nicht fragen. Ich hoffe dasselbe.«
    Sie schwiegen eine Weile, doch es war ein freundliches Schweigen. Die Luft roch nach Schnee und der kühle Wind, der von den Hügeln im Westen herunterkam, zerzauste Theodulfs zu kurzes Haar. Gjuki hatte in dem trockenen Brunnenbecken eine Elsternfeder zum Spielen gefunden und zirpte vergnügt vor sich hin. Ardeija beobachtete ihn.
    »Es war mir wirklich ernst mit dem, was ich vorhin gesagt habe«, bemerkte er, ohne aufzusehen.
    Theodulf schnaubte geringschätzig. »Du musst nicht höflich sein. Ich weiß selbst gut genug, dass ich nicht immer ein angenehmer Hausgenosse bin.«
    »Nein, nicht immer«, sagte Ardeija und musste lachen, als Gjuki sich auf den Rücken rollte und das Ende seines Schwänzchens um den Federkiel schlang. »Aber du bringst Glück. Seit du im Haus bist, habe ich kein einziges Mal schlecht von Bocernae geträumt.«
    Theodulf sagte nichts dazu, aber Ardeija meinte, aus dem Augenwinkel etwas wie die Andeutung eines Lächelns auf dem Gesicht seines Vaters zu erhaschen.
    »Komm«, sagte er. »Ich bringe dich nach Hause. Wenn du nicht sicher auf den Beinen bist, stütze ich dich.«
    »Es geht schon so«, sagte Theodulf und wehrte sich doch nicht, als Ardeija einen Arm um ihn legte.
     
    Finis

Anhang
     
    Zitate aus anderen Texten
    Fere libenter homines id quod volunt credunt – Caesar, De Bello Gallico III, 18. In etwa: Meist glauben die Leute ganz gern das, was sie auch glauben wollen.
    Quid non mortalia pectora cogis, auri utilis fames! – frei nach Vergil , Aeneis III, 56-57. In etwa: Wozu treibst du nicht die Herzen der Sterblichen, oh nützliche Goldgier! (Im Original: auri sacra fames , verfluchte Goldgier).
    Was ist Wahrheit? – Joh 18,38; Frage des Pilatus an Jesus.
     
    Andere erwähnte Werke
    Consolatio Philosophiae – »Der Trost der Philosophie«, ein Werk des spätantiken Philosophen Boethius, das er im Gefängnis verfasst haben soll, bevor er als (angeblicher) Hochverräter hingerichtet wurde.
    Physiologus – Ein in der Spätantike entstandener und im Mittelalter in verschiedenen Varianten sehr populärer Lehrtext, in dem vor allem Tiere, aber auch einigen Pflanzen und Steine, eine symbolisch-allegorische Ausdeutung erfahren; die ebenfalls enthaltenen naturkundlichen Informationen sind eher mit Vorsicht zu genießen. Der Tiger taucht allerdings nicht in allen Versionen des Physiologus auf.
     
    Lateinische Einsprengsel
    ad infinitum – auf unbestimmte Zeit, bis in alle Ewigkeit
    artes – Künste, hier im Sinne der „sieben freien Künste“ des mittelalterlichen Bildungskanons
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