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Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit
Autoren: Barbara Wood
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Horizont eine endlose Ebene.
    »Mutter!« rief Lisa staunend.
    Joanna glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Auf der sandigen Ebene, nicht weit unter ihnen, lagerten hunderte, vielleicht tausend Aborigines. Soweit man blicken konnte, hingen die Rauchwolken der Lagerfeuer in der Luft.
    »Es muß ein Treffen aller Sippen sein!« sagte Joanna ergriffen.
    »Aber Mutter, ich habe noch nie so viele Aborigines gesehen. Woher kommen sie alle?«
    Joanna stand noch ganz im Bann des atemberaubenden Augenblicks, während Yolgerups Sippe hinunter in die Ebene eilte. Von ihrem Platz aus sah sie, wie die Neuankömmlinge von den Sippen der verschiedenen Lager freudig begrüßt wurden. Die Frauen umarmten sich glücklich, Babys wurden stolz gezeigt und hochgehalten, alle sprachen gleichzeitig und deuteten lachend und unter Jubelrufen aufeinander. Es war ein turbulentes Wiedersehen, und jetzt verstanden Joanna und Lisa die Spannung und Aufregung der Sippe in den vergangenen Tagen. Sie hatten sich alle auf das bevorstehende Ereignis gefreut, so wie man sich bei den Weißen vielleicht auf das Familientreffen an Weihnachten freute.
    »Lisa«, sagte Joanna, »genau das hat mein Großvater vor zweiundfünfzig Jahren beschrieben! Alle fünf Jahre treffen sie sich wie jetzt. Sie erneuern Freundschaften, tauschen Geschichten aus und festigen die Bande der Sippen …«
    »Sieh dir Coonawarra an!« rief Lisa und deutete zum Fuß des steilen Abhangs, wo sich eine große Menschenmenge versammelt hatte. »Das muß der Mann sein, von dem sie erzählt hat, den sie heiraten will. Und sieh nur Yolgerup! Vor wem verneigt er sich ehrerbietig?«
    Aber Joannas Blick richtete sich nicht auf die Menschen. Sie starrte auf den riesigen Berg mitten in der Ebene.
    Die Wüste erstreckte sich nach allen Seiten endlos und flach bis zum Horizont. Mitten in der Ebene erhob sich ein großer, breiter, roter Berg. Der heiße Wüstenwind blies Joanna ins Gesicht, und während die letzten Angehörigen von Yolgerups Sippe an ihr vorbei den Hang hinuntereilten, breitete sich in ihr eine seltsame Ruhe aus. Der Berg flirrte in der Hitze. Er schien sich zu bewegen, zu atmen. Joanna hatte das Gefühl, daß eine unbeschreibliche Kraft auf sie zukam und sie dorthin zog.
    Lisa holte den Kompaß hervor und rief: »Sieh mal, wie die Nadel sich dreht, Mutter! Meinst du, der Berg ist dafür verantwortlich? Vielleicht ist der Berg ja magnetisch …«
    Joanna konnte den Blick nicht von dem Berg wenden. Der rote Stein schien Hitzewellen abzustrahlen. An seinem Fuß schimmerten silberne Flecken im Sonnenlicht, verschwanden und tauchten an einer anderen Stelle wieder auf. Joanna glaubte ein Summen zu hören, das von dem Berg ausging, als seien dort Millionen Bienen.
    Naliandrah trat neben sie. Sie hob den Arm und deutete auf den Berg: »Karra Karra«, sagte sie.
    »Warum hast du mir nicht gesagt, daß wir hierher ziehen?« fragte Joanna. »Du hast doch gewußt, daß ich Karra Karra suche.«
    »Ich konnte dich nicht herbringen, Jahna. Du mußtest selbst hierher finden. Du folgst deinem Traumpfad. Niemand kann das für dich tun.«
    »Hast du meinen Großvater gekannt? Warst du hier, als Djoogal Häuptling war?«
    »Das ist schon lange, lange her, Jahna. Ich war nicht hier, ich war im Missionsdorf.«
    »Aber weißt du etwas von dem Ritual, das im Berg stattfindet? Ich glaube, meine Großmutter hat daran teilgenommen.«
    »Nur wer in den Berg geht, weiß um das Geheimnis des Berges, Jahna. Ich bin nicht hineingegangen. Als ich alt genug war, hatte man die Kraft von Karra Karra gestohlen.«
    Mein Großvater hat sie gestohlen, dachte Joanna erschüttert.
    »Mutter«, sagte Lisa, »wenn das Karra Karra ist, dann sind wir am Ziel. Was wollen wir denn jetzt tun?«
    Joanna blickte noch immer auf den Berg, der in der Hitze flimmerte. Sie empfand tiefe Ehrfurcht und spürte, daß diesen Ort ein Mysterium umgab. Der Berg war ein einzigartiger roter Fels, aber sie spürte, er war ein Wesen, er hatte eine Seele. Joanna dachte: Die Bilder, die Mutter und mich in unseren Träumen verfolgt und gequält haben – die unaussprechliche Tat, die Emily mit angesehen hatte und das, was dazu führte, daß sie ohne ihre Eltern fliehen mußte – der Gift-Gesang – die Antworten auf die Fragen zu dem Geheimnis der Regenbogenschlange und der wilden Hunde – und schließlich auch das ›andere Erbe‹, das Mutters Rückkehr erzwingen wollte – all das ist hier gegenwärtig.
    Joanna dachte an die langen
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