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Totgeschwiegen (Bellosguardo)

Totgeschwiegen (Bellosguardo)

Titel: Totgeschwiegen (Bellosguardo)
Autoren: Annette Reiter
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enttäuscht über d ie Unterbrechung, sah Anna noch einmal zu Domenik herüber. Er beobachtete sie immer noch ungeniert und intensiv. Sie nickte ihm kurz zu und merkte, wie sie dabei errötete. Hastig machte sie sich auf, ihrer Freundin in den Unterricht zu folgen.
    „Sag mal, Anna, was war das denn eben? Läuft da irgendwas zwischen dir und Domenik?“
    „Ähm nein, wie kommst du denn darauf?“
    „Na ja, so wie er dich angesehen hat. Und du bist rot wie eine Tomate.“
    „Weiß auch nicht, der hat mich eben die ganze Zeit so angestarrt.“
    „Na ja, gut aussehen tut er ja. Aber irgendwie finde ich ihn ein wenig seltsam.“
    „Du hast doch gar nichts mit ihm zu tun.“
    „Nee, aber Nina war mal kurz mit ihm zusammen. Die meinte, der wäre irgendwie eigenartig. Kommt wahrscheinlich aus ziemlich kaputten Familienverhältnissen.“
    „Na ja, davon gibt es hier ja einige.“
    „Nein, der ist kein gewöhnliches Scheidungskind. Da war noch was. Komme jetzt grade nicht drauf. Frag mal besser Nina, bevor du dich mit ihm einlässt.“
    „Und wenn ich gar nicht vor habe, mich mit ihm einzulassen?“
    „Ich sag’s ja nur.“ Und mit diesen Worten zog Lara die Tür zum Unterrichtsgebäude auf. Die Gänge waren schon verwaist. Sie waren mal wieder ein paar Minuten zu spät zum Nachmittagsunterricht.
     
    Nachdem sie sich die obligatorische Standpauke von ihrem Deutschlehrer abgeholt hatten, verbrachte Anna die meiste Zeit des Unterrichts tief in Gedanken versunken. Domenik wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Kaputte Familienverhältnisse. Was bitte soll bei ihm kaputter sein, als bei den anderen? Zugegeben, nicht jeder Schüler in ihrem Internat stammte aus einer Scheidungsfamilie. Einige waren aus schulischen Gründen hier, andere waren hier von ihren Eltern geparkt worden, weil diese sich im Ausland aufhielten. Aber im Großen und Ganzen gab es viele problembehaftete Familien, die sich dazu entschieden hatten, ihre Kinder in die Obhut eines Internats zu geben.
    Bei ihr war es auf jeden Fall so gewesen.
     
    Ihr Zuhause war früher einmal in München gewesen. Aber das Haus hatte ihr Vater verkauft und das Einzige, was ihr als Erinnerung an die vergangene Zeit noch blieb, war das Ferienhaus in der Toskana. Von diesem Haus hatte sich ihr Vater nicht trennen können. Es war, seitdem Anna denken konnte, der Lieblingsort ihrer Mutter gewesen. Dort hatten sie immer ihre Urlaube verbracht. Alle Möbel, die ihr Vater aus dem Münchner Haus nicht hatte einlagern wollen, befanden sich nun in diesem Haus. Das alte toskanische Bauernhaus glich damit mehr einer Rumpelkammer und erinnerte nur noch entfernt an das im schlichten Landhausstil eingerichtete Ferienhaus, das es einmal gewesen war.
    Aber was machte das schon groß. Anna war sowieso nur noch selten dort. In der ersten Zeit, nach dem schrecklichen Unfall, hatten ihr Vater, sie und ihre ältere S chwester das Haus gemieden. In den letzten zwei Jahren hatten sie lediglich ein paar Wochen im Sommer dort verbracht. Und das war schon schwer genug gewesen.
     
    Seit dem Tod ihrer Mutter hastete ihr Vater wie ein Verrückter durch die Welt und lebte in Hotels. Da Anna als Schülerin kaum den Lebensstil ihres Vaters mitleben konnte, hatte er sie auf das Internat geschickt. Und dafür war sie ihm dankbar. Sie war gerne hier und fühlte sich in der Gemeinschaft der Gleichaltrigen wohl. Irgendwie war das Internat im Laufe der letzten drei Jahre zu ihrem Zuhause geworden. Als Elftklässlerin gehörte sie zu dem Stamm der mittlerweile alteingesessenen Schüler, ebenso wie ihre Freundin Lara, welche eines der klassischen Scheidungskinder war. Lara kam mit ihrem Stiefvater überhaupt nicht zurecht und war dankbar um all die Zeit, die sie nicht zuhause verbringen musste.
    Anna war früher gern mit ihrem Vater zusammen gewesen. Allerdings hatte sie noch nie ein besonders enges Verhältnis zu ihm gehabt. Dafür hatten sie einfach immer schon zu wenig Zeit miteinander verbracht. Sein Leben hatte, seit sie denken konnte, aus Arbeit bestanden.
    Für sie war ihr Vater ein Wochenendvater gewesen, der ihr von Geschäftsreisen Geschenke mitgebracht hatte. Er war nie besonders interessiert an ihrem und Mayas Leben gewesen, aber das hatte sie nie gestört. Ihre Mutter war ja immer für sie dagewesen. Wirklich Zeit hatten sie mit ihrem Vater nur während der gemeinsamen Familienurlaube verbracht. Aber auch das hatte sich seit dem Tod ihrer Mutter verändert. An ihrem Vater lastete seitdem eine
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