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Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan

Titel: Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Autoren: Kathy Reichs
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abgehalten. Ich stemmte die Hände in die Hüften, streckte mich und bewegte meinen Oberkörper in langsamen Kreisen vor und zurück. Auch wenn das nicht gegen die Schmerzen half, so konnte es wenigstens nicht schaden. In letzter Zeit hatte ich häufig mit Rückenproblemen zu kämpfen, und daß ich mich gerade wieder drei Stunden lang über den Autopsietisch gebeugt hatte, tat meiner Wirbelsäule auch nicht gerade gut. Ich weigerte mich zuzugeben, daß das etwas mit meinem Alter zu tun haben könnte. Ebensowenig wie die Lesebrille, die ich mir erst kürzlich hatte zulegen müssen oder die Tatsache, daß sich mein Körpergewicht von zweiundfünfzig auf vierundfünfzigeinhalb Kilo erhöht hatte und nicht wieder herunterzubekommen war. Nichts hatte mit dem Alter zu tun.
    Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, wie Daniel, einer der Autopsiegehilfen, mich von der Tür aus beobachtete. Er zog einen Mundwinkel hoch und schloß einen Augenblick die Augen. Dann legte er mit einem Ruck all sein Gewicht auf ein Bein und zog das andere hoch. Er sah aus wie eine Sandschnepfe, die eine Welle unter sich durchlaufen läßt.
    »Wann kann ich denn die Röntgenaufnahmen machen?« fragte er und blickte mich über die Gläser seiner auf die Nase gerutschten Brille an.
    »Ich müßte eigentlich so gegen drei Uhr hier fertig sein«, sagte ich und warf die Handschuhe in den Abfallbehälter. Auf einmal merkte ich, wie hungrig ich war. Mein Vormittagskaffee stand noch immer unberührt auf der Arbeitstheke und war inzwischen kalt geworden. Ich hatte ihn vor lauter Arbeit völlig vergessen.
    »Okay«, sagte Daniel und machte ein paar Schritte nach hinten, bis er mit einer abrupten Drehung wieder im Büro verschwand.
    Ich warf die Schutzbrille auf die Arbeitstheke, nahm eine weiße Papierdecke aus einer der Schubladen und breitete sie über die Leichenteile. Nachdem ich mir die Hände gewaschen hatte, begab ich mich in mein Büro im vierten Stock, zog mich um und ging zum Mittagessen außer Haus. Das tat ich selten, aber heute hatte ich große Sehnsucht nach frischer Luft und Sonnenlicht.
     
    Claudel hatte Wort gehalten. Als ich um halb zwei wieder in mein Büro kam, saß er bereits auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch und betrachtete interessiert den rekonstruierten Schädel auf dem Arbeitstisch. Als er mich kommen hörte, drehte er den Kopf in meine Richtung, sagte aber nichts. Ich hängte meine Jacke an den Haken hinter der Tür und ging um ihn herum zu meinem Schreibtischstuhl.
    »Bonjour, Monsieur Claudel. Comment ça va?« grüßte ich ihn und sah ihn quer über den Schreibtisch an.
    »Bonjour«, antwortete er, ohne sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Auch recht. Dann wartete ich eben, bis er mir was zu sagen hatte. Charmante Zeitgenossen wie ihn hatte ich besonders gerne.
    Claudel faltete die Hände über einem Schnellhefter, den er auf meinen Schreibtisch gelegt hatte. Sein Gesicht, dessen Züge in geraden Linien auf eine schnabelartig vorspringende Nase zuliefen, erinnerte mich an einen Papagei. Wenn Claudel lächelte – was allerdings selten der Fall war -, zog er die Mundwinkel eher nach oben als nach hinten. Sein Mund sah dann aus wie ein V, das mit den spitzen Winkeln von Kinn und Nase korrespondierte.
    Claudel seufzte und zeigte mir damit, wie sehr ich seine Geduld strapazierte. Bisher hatte ich noch nie mit ihm zusammengearbeitet, aber ich kannte den Ruf, der ihm vorauseilte. Claudel, so sagten es seine Kollegen, hielt sich für einen außergewöhnlich intelligenten Mann.
    »Ich habe da ein paar Namen, die passen könnten«, sagte er. »Alles Frauen, die in den vergangenen sechs Monaten verschwunden sind.«
    Schon am Fundort der Leiche hatte ich Claudel eine erste Schätzung des Todeszeitpunkts mitgeteilt, und meine vormittägliche Arbeit im Autopsieraum hatte mir in dieser Hinsicht keine neuen Erkenntnisse beschert. Ich war mir noch immer sicher, daß sie vor nicht mehr als drei Monaten getötet worden war. Die Winter in Quebec sind zwar hart für die Lebenden, aber gut für die Konservierung von Toten, denn gefrorene Leichen verwesen nicht. Sie ziehen auch kein Ungeziefer an. Wäre die Leiche im vergangenen Herbst in das Wäldchen gebracht worden, dann hätte ich Larven oder Puppen von Insekten finden müssen. Aber es gab keine, sondern Maden, deren Anzahl unter Berücksichtigung des ungewöhnlich warmen Frühlings darauf schließen ließ, daß die Leiche etwa seit drei Monaten dort lag. Diese Theorie wurde auch durch den
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