Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
Vom Netzwerk:
Handbewegung, als fordere er ihn auf, keine Zeit für leere Rechtfertigungen zu vergeuden. Daraufhin schlug T. die Beine übereinander, reckte den Bart in die Höhe und starrte hochmütig in eine Ecke der Zelle.
    »Wie wollen Sie mich denn umbringen?«, fragte er.
    »Sie werden im Hof erschossen.«
    »Wann?«
    »Unverzüglich.«
    »Ich habe irgendwie damit gerechnet, man werde mir den Kopf abschlagen wie Solowjow … Wie ich sehe, neigt Ariel Edmundowitsch allmählich zum Minimalismus.«
    »Wie bitte?«, fragte Kudassow angespannt.
    »Ach nichts«, seufzte T. »Sie würden das wohl kaum verstehen, also halten wir uns nicht damit auf.«
    »Sagen Sie«, fing der Leutnant an, »haben Sie noch einen Wunsch, den wir Ihnen erfüllen können? Einen letzten Willen? Möchten Sie über Ihren Besitz verfügen? Oder traditionsgemäß eine Inschrift zum Gedenken anbringen? Unsere Spezialisten übertragen sie mit Ihrer Handschrift auf die Zellenwand. Natürlich nur, sofern es kein Problem mit der Zensur gibt.«
    »Das ist eine vernünftige Idee«, erwiderte T. »Ich schätze die Sorge des Staates um die Kultur. Lassen Sie mir Papier und Tinte bringen. Und eine neue Kerze, es ist etwas dunkel hier.«
    Kudassow nickte und der Leutnant wandte sich zur Tür.
    »Und bitte«, rief T. ihm hinterher, »bringen Sie noch ein Glas Wasser. Ich habe Durst.«
    Während der junge Gendarm unterwegs war, sagte Kudassow kein einziges Wort – zuerst studierte er die Inschriften an den Wänden, danach betrachtete er angelegentlich den Boden unter seinen Füßen. T. bemerkte erst jetzt, dass er Sporen trug.
    »Wozu braucht ein Gendarm Sporen?«, überlegte er. »›Die Schwester streift ich mit der Spore leicht …‹ 90 Ob er wohl eine Schwester hat? Oder wenigstens ein Pferd? Aber was geht mich das an …«
    Nach fünf Minuten kehrte der Leutnant mit einem kupfernen Tablett in Händen zurück. Auf dem Tablett waren ein Stoß Wappenpapier und ein Tintenfass mit einer Feder. Dem Leutnant folgte ein Soldat mit einem Glas Wasser in der einen und einer brennenden Kerze in der anderen Hand. Der Leutnant stellte das Tablett vor T. hin; dann richtete der Soldat die Kerze und das Glas genau symmetrisch rechts und links vom Tablett aus.
    »Lassen Sie mich jetzt eine Weile allein«, bat T.
    »Das geht nicht«, sagte der Leutnant. »Sie müssen in unserer Gegenwart schreiben.«
    »Wenigstens für eine Viertelstunde …«
    Kudassow schüttelte den Kopf.
    »Ich möchte wissen, wovor Sie Angst haben«, bemerkte T. »Dass ich mich mit diesem Tablett umbringe? Dann haben Sie weniger Scherereien und ein reines Gewissen … Aber so leicht mache ich es Ihnen nicht, damit brauchen Sie nicht zu rechnen. Wirklich, meine Herren, lassen Sie mich allein. Ich muss meine Gedanken sammeln, und in Ihrer Gegenwart ist das unmöglich …«
    Kudassow und der Leutnant wechselten einen Blick. Der Leutnant zuckte die Achseln.
    »Gut, Sie haben eine Viertelstunde«, sagte Kudassow und fuhr in leicht betretenem Tonfall fort: »Und noch etwas – Ihre Bekannte Axinja Tolstaja-Olsufjewna hat ein Anliegen, das uns durch unsere obersten Vorgesetzten übermittelt wurde. Sie hat anscheinend beste Beziehungen … Jedenfalls veröffentlicht sie ein neues Buch: Ein bisschen Sonne in der kalten Witwe . Sie bittet Sie um eine kurze Stellungnahme dazu, nur ein oder zwei Zeilen.«
    »Sie soll doch selbst in meinem Namen schreiben«, sagte T. »Sagen Sie ihr, dass ich es gestatte.«
    »Meinetwegen, ich sage es ihr«, nickte Kudassow. »Aber ich fürchte, die Ärmste tut sich schwer damit, sich etwas für Sie auszudenken, Graf, deshalb hat sie gebeten … Aber es geht mich ja nichts an.«
    Als die Tür zufiel, blickte T. hinüber zur Wand, zu Fedka Pjataks Abschiedsbotschaft.
    »Jetzt weiß ich, wo der wahre Autor zu suchen ist«, dachte er. »Man braucht ihn gar nicht suchen. Er ist hier. Er muss sich als ich ausgeben, damit ich erscheinen kann. Wenn man es recht überlegt, gibt es eigentlich kein ich , es gibt nur ein er . Aber dieser er bin auch ich. Und so geht es durch die gesamte Zwischenabbildung, bis ganz zum Anfang und zum Ende, Solowjow hatte so recht … Eternal mighty I am , wie in dem alten protestantischen Psalm. Nur wurde die Zeile in meinem Fall verlängert zu I am T. Aber T. ist hier gar nicht wichtig. Wichtig ist nur I am . Denn I am kann es auch ohne Graf T. geben, aber Graf T. kann es nicht ohne dieses I am geben. Solange ich denke, I am T., arbeite ich als Hilfsarbeiter in Ariels
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher