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Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Qiu. Xiaolong
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Straße einzig und allein deshalb gebaut worden, damit die Parteifunktionäre direkt zum Erholungsheim fahren konnten, ohne den Park betreten zu müssen.
    In Wuxi überquerte er den kleinen Platz, ging durch ein paar unbekannte Gässchen und fand sich zu seiner Verwunderung plötzlich wieder vor dem Lokal von Onkel Wang.
    Dass er sich derart verlaufen hatte, lag jedenfalls nicht an dieser jungen Frau, versicherte er sich nicht ohne Selbstironie. Es war das gute Essen, das ihn anzog, versuchte er diesen Streich seines Unterbewusstseins zu rechtfertigen. Außerdem schätzte er die ruhige, anonyme Atmosphäre. Dort war er ein Niemand, und außer ihm war niemand da.
    Was die Verunreinigung der Lebensmittel betraf, vor der ihn die Frau gewarnt hatte, so würde das Problem vermutlich überall das gleiche sein.
    Onkel Wang zeigte sich durchaus nicht überrascht, ihn zu sehen.
    »Sie sind früh dran, Herr Chen. Was darf’s denn heute sein?«
    »Es ist noch nicht Mittagszeit. Bringen Sie mir erst mal eine Kanne grünen Tee.«
    »Einen Tee, aber gern. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie bestellen wollen.«
    Bald darauf wurde eine Teekanne vor ihn hingestellt, dazu ein Schälchen mit Sonnenblumenkernen und ein halbvoller hellblauer Aschenbecher, vermutlich derselbe, den er gestern benutzt hatte.
    Er nippte an seinem Tee und blickte die Straße entlang.
    Ein Stück entfernt nahm eine Familie vor ihrer Haustür ein spätes Frühstück ein. Auf einem Plastikstuhl, einem Holzschemel und einem Bambussessel saß sie im Kreis, jedoch ohne Tisch in der Mitte. Die Mutter versuchte schimpfend, den kleinen Jungen zu füttern, dessen ganze Aufmerksamkeit einem bunten Drachen galt, der im Baum hing. Der Vater rauchte unterdessen ungerührt seine Zigarette.
    Noch ein Stück weiter hockte ein Straßenhändler neben einem weißen Laken, auf dem er allerlei Souvenirs und Kleinigkeiten feilbot. Sonderbar. In dieser Seitenstraße, fernab vom Touristenstrom, würde er wohl kaum Käufer für seine Waren finden. Dennoch schien der Mann keineswegs um sein Geschäft besorgt zu sein; in dem kurzärmligen weißen Hemd wirkte er fast wie jemand, der zum Vergnügen vor seinem Haus sitzt. Doch der Oberinspektor verbat sich derartige Spekulationen sogleich. Er kannte sich hier nicht aus und wollte keine unbegründeten Schlüsse ziehen.
    Was er sah, waren Alltagsszenen mit ganz gewöhnlichen Menschen, sagte er sich, und es entspannte ihn, sie unbeteiligt wahrzunehmen.
    Er hatte das Gefühl, etwas schreiben zu können, und zog sein Notizheft heraus. Ihm schwebten ein paar Zeilen über seine Erfahrungen fern des Polizistendaseins vor. In den vergangenen Monaten war er immer weniger zum Schreiben gekommen, und die viele Arbeit hatte ihm die nötige Ausrede dafür geliefert.
     
    Wo sonst leben wir,
    als in geliehenen Identitäten,
    als in der Phantasie anderer?
    Wie unter einer Lupe betrachtet man dich und mich,
    posierend vor einem im Wind flüsternden Walnussbaum,
    ein Schmetterling, der sich zum schwarzen Auge der Sonne aufschwingt.
     
    Nur im rechten Licht
    und am rechten Ort
    werden wir als bedeutungsvoll wahrgenommen
    wie der Specht,
    der seine Daseinsberechtigung
    durch den Widerhall hohler Bäume
    unter Beweis stellt.
     
    Die Zeilen nahmen eine unvorhergesehene Wendung, wurden zunehmend melancholisch. Er hielt inne, schrieb dann aber weiter. Eine durchaus sinnvolle Betätigung, wie er sich selbst versicherte.
    Onkel Wang füllte die Teekanne aus rotbraunem Ton mit heißem Wasser auf.
    Es ging auf Mittag zu, und Chen war noch immer der einzige Gast. Unwillkürlich wanderten seine Gedanken zu ihr. Den Stift in der Hand erinnerte er sich an ihre Äußerung über die Bedeutung der Lyrik in der heutigen Gesellschaft. Das Nachdenken über Identitäten war tatsächlich ein Luxus, den sich nur müßige Touristen wie er leisten konnten. Andere Menschen hatten alle Hände voll damit zu tun, in dieser Gesellschaft überhaupt zurechtzukommen. Wer beschäftigte sich schon mit solch abgehobenen Ideen? Außerdem war die Frage, ob ihn die Arbeit eines Polizisten befriedigte, rein akademisch. Was sollte er sonst tun?
    »Lassen Sie sich Zeit.« Onkel Wang war an seinen Tisch getreten und legte die Speisekarte vor ihn hin. »Es hat keine Eile.«
    Nachdem er die Seite mit den lokalen Fischspezialitäten studiert hatte, entschied Chen sich für »fangfrischen Fisch aus dem See«, der in Klammern als Empfehlung des Hauses
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