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Tödliches Rätsel

Tödliches Rätsel

Titel: Tödliches Rätsel
Autoren: Paul Harding
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ein Fenstersims und pochte mit dem gelben Schnabel gegen das horngefaßte Glas. Dann drehte er sich wieder um. Chapler vermutete, daß der Rabe ihn betrachtete. Ein Vorzeichen? Ein Teufel? Er überlegte, ob er die Tür aufmachen sollte, um zu sehen, ob das Tier hinausflog, aber er konnte sich nicht rühren. Eigentlich lohnte sich die Mühe auch nicht; zumindest leistete der Vogel ihm Gesellschaft. Der Rabe krächzte, als könne er seine Gedanken lesen, und drehte den Kopf zur Tür. Seufzend wollte Chapler sich aufrappeln, als die Tür krachend aufflog. Der Rabe krächzte triumphierend, schwebte hinunter und hinaus ins schwindende Licht. Chapler achtete nicht auf ihn, hatte nur Augen für die Schattengestalt, die in die Kirche geschlurft kam.
    »Wer bist du?« rief er.
    Die verhüllte Gestalt antwortete nicht. Statt dessen blieb sie vor dem Christophorus-Altar stehen, der sich gleich neben dem Eingang befand. Eine Münze fiel in einen Kasten, ein Kienspan wurde angezündet, eine brennende Kerze auf einen eisernen Dorn vor der Statue des Schutzheiligen der Reisenden gesteckt. Die Gestalt drehte sich um. Es war eine Frau. Ihr zottiges Haar fiel unter der Krempe ihres spitzen Hutes hervor und lag in struppigen Locken auf ihren Schultern. Schlurfend kam sie näher. Chapler erkannte ein runzliges Gesicht, glitzernde Knopfaugen und fest zusammengepreßte Lippen, die zwischen den Falten der Wangen fast verborgen waren. Er seufzte erleichtert auf. Es war nur die alte Harrowtooth, eine Hexe, eine weise Frau, die in einer schäbigen Behausung weiter unten an der Brücke wohnte. Man nannte sie Harrowtooth — Eggenzahn — , weil ein einzelner vorstehender Zahn wie der Zinken einer Egge über ihre Unterlippe hinunterragte.
    »Ich bete gern über dem Wasser«, krächzte die alte Harrowtooth und lächelte gezwungen. »Ein guter Ort zum Beten, sage ich. Immer still. Gottes Wasser unter mir, Gottes Himmel über mir.« Ihre Klauenhand schloß sich um Chaplers Handgelenk. »Und es tut immer gut, wenn man sieht, wie ein stattlicher junger Mann seine Gebete spricht. So manchen jungen Mann hab’ ich im Leben gesehen«, plapperte sie weiter »Ich erinnere mich an einen hier, der mich mit Flüchen vertreiben wollte, als ich ihn um eine Münze bat.« Sie schob ihr häßliches Gesicht dichter an seines heran. »Krank ist er geworden, ein Fieber hat er bekommen, und schrecklicher Durst wütete in seiner Kehle. Trotzdem wagte er nicht, sich die Lippen zu befeuchten, denn er ertrug es nicht mehr, das Wasser zu hören oder zu fühlen.«
    Chapler zog die Hand weg, öffnete seine Börse und reichte ihr einen Penny.
    »Gott segne dich, mein Herr.« Sie hielt die Münze in die Höhe. »Gott segne dich. Ich komme herein und gebe einen Farthing für eine Kerze aus, und wie es aussieht, gehe ich reicher wieder hinaus. Wer sagt da, daß Gott unsere Gebete nicht erhört?« Die schmalen Schultern der Alten bebten vor Lachen. Sie öffnete die Tür und drehte sich noch einmal um. »Ein Wort der Warnung, junger Mann.« Ihre Stimme klang jetzt rauh und überraschend stark. »Der Rabe ist ein Vorbote des Unheils!« Sie schlug die Tür hinter sich zu.
    Chapler kehrte zu seinem Pfeiler zurück und kauerte sich nieder. Trotz der Erscheinung der alten Harrowtooth war ihm gelassener zumute, als habe er einen Entschluß gefaßt. Wenn er tat, was recht war, wenn er tat, was sich gehörte, würde ihm nichts geschehen, und alles würde gut werden. Er blieb noch eine Weile und überdachte, was er tun würde. Er sank auf die Knie. Jetzt, da seine Seele ruhig war, konnte er beten. Vielleicht sollte er auch noch eine Kerze anzünden, bevor er ginge? In seiner Andacht versunken, hörte Chapler nicht, wie die Tür sich leise öffnete.
    Die Schattengestalt kam schnell wie eine Spinne heran, huschte über die Steinplatten, und man hörte keinen Laut, bis die eisenbeschlagene Keule Chaplers Hinterkopf zerschmetterte und der junge Mann zu Boden fiel, während ihm das Blut aus dem Mund floß.
    Die Gestalt bückte sich und schleifte ihn hinaus auf die Stufen vor der Tür. Dort verharrte der Mörder. Niemand war in der Nähe. Es war dunkel geworden, und die Geschäfte des Tages waren beendet. Er hob Chapler auf, als sei das Opfer ein Freund, der zuviel getrunken hatte, und eilte mit ihm seitlich um die Kirche herum zum Brückengeländer. Hier konnte man ihn nicht sehen. Strebpfeiler der Kapelle ragten zu beiden Seiten heraus und schirmten ihn vor fremden Blicken ab. Er wuchtete
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