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Tödlicher Staub

Tödlicher Staub

Titel: Tödlicher Staub
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Meinung ihrer Lehrerin reif für die neue Karriere war, verließ sie die Oberschule und nahm ein Engagement in der Bar Tropical an. Es war ein ›In-Lokal‹, wie man so etwas jetzt nannte, besucht von einer neuen Gesellschaftsschicht, die – wer weiß, was sie tagsüber trieb – mit Geld um sich warf und alles kaufte, was käuflich war. Und käuflich war in Rußland jetzt alles, je mehr dieses Land sich dem Westen öffnete. Eine Tänzerin für eine Nacht zu kaufen, gehörte zu den geringfügigen Ausgaben eines angenehmen Lebens.
    Das war nun bereits vier Jahre her. Jetzt, im Mai 1991, war Natalja der Star vom Tropical, nahm mehr Rubel ein als der Präsident Rußlands, und Vater Victorow, noch immer arbeitslos, lebte wie ein wohlgenährter Natschalnik, besuchte ab und zu die Bar und sah seiner wunderschönen Tochter zu, wie sie sich aus dem Kostüm schälte und schließlich nackt von der Bühne tänzelte. Und wenn ihn jemand fragte, wie es Natalja gehe, antwortete er stolz:
    »Sie ist Tänzerin, Ausdruckstänzerin. Eine wahre Künstlerin. Keine Pawlowa, die ist unerreicht … aber ein Star ist sie trotzdem. Wir sind mit ihr zufrieden.«
    An diesem sonnigen Nachmittag im Mai saß Natalja also auf der Bank am Moskwa-Ufer, nahm die Wärme der Sonne in sich auf und dachte über eine neue Tanznummer nach, die sie einstudieren wollte. Eine ziemlich geile Nummer, in der ein Teddybär seine Spielchen zwischen ihren Beinen trieb. Und das war noch die harmloseste Szene der Choreographie.
    Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein auf der Bank zu sitzen. Sie senkte ihren Kopf und öffnete die Augen. Kein Irrtum, neben ihr saß ein Mann mittleren Alters, elegant gekleidet, nach einem herben Herrenparfüm duftend. Durch die tiefbraunen Haare zogen sich einige weiße Fäden, aber das bemerkenswerteste waren seine blaugrünen Augen, eine Farbmischung, die Natalja noch nie gesehen hatte. Diese fordernden Augen blickten sie an, als strichen seine Hände bereits liebkosend über ihren Körper.
    Die Hände! Natalja warf einen Blick auf sie. Seine Hände lagen auf seinem linken Oberschenkel, geschmückt von vier dicken Ringen mit Brillanten und blauen Saphiren, die aber nicht davon ablenken konnten, daß die linke Hand nur vier Finger besaß. Es mußte ein Geburtsfehler sein, denn keine Narbe zeigte, daß er den fünften Finger durch einen Unfall verloren hatte.
    Der Mann machte im Sitzen eine kleine Verbeugung. Als er zu sprechen begann, wirkte seine tiefe, warme Stimme sympathisch.
    »Ein herrlicher Tag«, sagte er. »Man kann richtig aufatmen nach dem langen Winter. Und wer Sie ansieht, Natalja, weiß, was Frühling bedeutet.«
    »Sie kennen mich?« Natalja errichtete eine Glaswand zwischen sich und dem Mann. Nachts, da war sie ein anderer Mensch als am Tag. »Ich nehme an, aus dem Tropical.«
    »Ich bin Stammgast, seitdem Sie dort tanzen. Wie Sie sich ausziehen … das ist Klasse und hat Rasse.«
    »Was wollen Sie?« Ihre Zurückweisung war deutlich genug, um nicht mißverstanden zu werden. Aber der elegante Herr überhörte den abwehrenden Ton und lächelte Natalja an, als sei man sich für eine Nacht einig geworden.
    »Ich bin Igor Germanowitsch Sybin«, sagte er. Er sprach den Namen so aus, als erwarte er ein lautes Händeklatschen. Aber Natalja zeigte sich völlig unbeeindruckt.
    »Na und?« fragte sie zurück.
    »Sie kennen mich nicht?«
    »Wie kann man jeden Gast kennen, der in der Bar sitzt, auch wenn er Stammgast ist.«
    »Bis auf die, welche das Glück haben, mit tausend Rubel die Tür Ihrer Garderobe zu öffnen.«
    »Sie verwechseln Ort und Zeit, Igor Germanowitsch. In der Nacht – das ist mein Beruf, jetzt haben wir Tag, ich sitze auf einer Bank an der Moskwa, lasse mich von der Sonne bescheinen und möchte allein sein. Wenn Sie meinen, ich sei die Tänzerin, dann irren Sie sich. Ich bin die Ihnen fremde Natalja Petrowna Victorowa.« Sie legte den Kopf wieder in den Nacken, schloß die Augen und genoß weiter ungerührt die sie umhüllende Wärme der Maisonne.
    Sybin sah sie eine Weile schweigend an und dachte daran, wie betörend dieser Körper auf der Bühne war. Ein Bildhauer aus der Blütezeit Griechenlands hätte ihn nicht besser in weißen Marmor meißeln können. Vollkommene Schönheit.
    »Warum sind Sie so kalt, Natalja?« fragte er.
    »Am Tag bin ich kalt. Wir sollten uns vielleicht am Abend unterhalten. Wenn Sie in das Tropical kommen …«
    »Nicht in der Bar! Auch nicht in Ihrer Garderobe! Ich bin
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