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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens
Autoren: Elia Barceló
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Auswirkungen auf das gesamte Land, sogar auf die ganze Welt. Und wen interessiert das jetzt noch? Wer erinnert sich heute, Jahrzehnte später, an die Freude und den Stolz und den Schmerz und die Hoffnung in allem, was in jenem Schuljahr geschah?
    Ich erinnere mich. Aber ich erinnere mich auf meine Art, denn die Zeit trübt das Gedächtnis, fügt Nebensächliches hinzu, winzige Details, die alle Taten entschuldigen, so unentschuldbar sie damals auch waren.
    Wir haben nie darüber gesprochen.
    Die Clique vom 28sten, oder das, was davon noch übrig ist, trifft sich weiterhin, isst Tapas, redet gut oder schlecht von ihren Männern und Kindern, vom Job, von ihren bescheidenen Plänen für eine Zukunft, die am Horizont zusammengeschrumpft ist und nichts mehr mit dem zu tun hat, was sie sich einst erträumt haben. Aber das haben sie längst vergessen. Oder vielleicht wissen sie es doch noch und weigern sich, wie Candela, darüber zu reden, damit die anderen nichts von ihrer Frustration, von ihren verdorrten Träumen erfahren …

    Über das Folgende kann ich nicht in der dritten Person schreiben. Ich bin Candela, und die andere, die Candela, die ich mir als Figur für diesen Roman ausgedacht habe, den ich niemals beenden werde, existiert nicht. Sie starb vor vielen Jahren, als wir aus Mallorca zurückkamen, als Marga für immer aus meinem Leben verschwand, als ich Anwältin wurde, um jederzeit für alles gewappnet zu sein.
    Manchmal möchte ich gern beichten, was ich getan habe, auch wenn ich es gar nicht getan habe. Ich möchte sagen können: »Ich habe Mati getötet«, weil meine auf Mordsachen spezialisierten Kollegen sagen, der Angeklagte fühle sich plötzlich glücklich, rein, innerlich ruhig. Und so habe ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Aber das kann ich nicht, weil es nicht wahr ist, weil ich Mati nicht getötet habe und nicht weiß, wer es gewesen sein könnte, selbst wenn Lena, falls sich jemand die Mühe macht, sie zu fragen, sagen würde, dass ich es war.
    Es war fast Mitternacht. Wir sahen alle aus wie wandelnde Leichen, und die Angst schnürte uns die Luft ab. Wir sahen uns mit weit aufgerissenen Augen an und fürchteten, jeden Augenblick käme ein Beamter mit einem Telegramm, und dann würden die Fragen anfangen, die wir nicht beantworten konnten. Doña Marisa machte Witze darüber, wie schlecht uns die Ferien bekommen wären, insbesondere die letzte Nacht, und uns zog sich innerlich alles zusammen, obwohl wir sicher waren, dass sie von dem, was sich tatsächlich in diesem Garten abgespielt hatte, keine Ahnung haben konnte.
    Aber Mati wusste es, wie immer, wie alles. Mati wusste es und sah uns aus halb geschlossenen Augen hämisch grinsend an, weil sie von jetzt an endlich tun konnte, was sie wollte, denn nachdem sie so vieles in ihr schwarz gebundenes Heft geschrieben, so eifrig Kleinigkeiten gesammelt hatte, gab es nun endlich etwas, womit sie uns für den Rest unseres Lebens mächtig unter Druck setzen konnte.
    Ich traf sie im Gang, als sie gerade an Deck gehen wollte und ich aus der Toilette kam, weil ich mich wieder einmal hatte übergeben müssen. Sie winkte mich zu sich, und ich ging mit ihr hinaus in eine dunkle, windige Nacht, durch die das Schiff über ein Meer schaukelte, das schwarz war wie geschmolzener Teer. Wir waren allein, sie lächelnd und braun gebrannt, ich grünlich und wütend.
    Sie sprach von unseren Plänen, von unserer Zukunft in Valencia, der Wohnung, die wir teilen würden, dem Geld, das ich ihr leihen würde, damit sie studieren könnte, damit wir die gleichen Kleider tragen, dieselben Lokale besuchen, gemeinsam reisen könnten.
    Die Galle stieg mir in die Kehle, während sie redete, laut träumte, sich immer mehr hineinsteigerte, als wäre mein Schweigen Zustimmung.
    »Marga schicken wir nach London«, schloss sie. »Es wird ihr dort gefallen. Sobald ihre Eltern über euch Bescheid wissen, sollte das kein Problem sein. Sie werden von sich aus darauf kommen, dass es das Beste ist, wenn sie eine Zeit lang von hier verschwindet.«
    Ich glaube, das war der Moment, in dem ich ihr die Hände um den Hals legte und zudrückte. Ich sehe noch deutlich, wie ihr die Augen hervorquellen und sie blass wird. Denn da hat sie begriffen, dass ich sie töten werde, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als sie jetzt zu töten, damit ich weiterleben kann, damit wir alle weiterleben können. Sie schlägt um sich und versucht, mich zu kratzen, aber die Verzweiflung gibt mir Kraft, und ich
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