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Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)

Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)

Titel: Töchter des Mondes - Sternenfluch (German Edition)
Autoren: Jessica Spotswood
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schwarzen Umhängen und ernsten Mienen. Die zwei Mitglieder der Bruderschaft betreten ohne ein Wort die Wohnung.
    Mein Herz setzt aus. Was haben wir getan? Wodurch haben wir uns verraten?
    Alice und Mei sind schon auf den Beinen. Ich rapple mich auf und stelle mich neben die beiden, während Henry zu seiner Mutter läuft.
    Der kleinere, kahlköpfige der zwei Männer tritt vor. Er hat ein längliches Gesicht, blaue Augen und einen stechenden Blick. »Lavinia Anderson? Ich bin Bruder O’Shea vom New Londoner Rat. Das hier ist Bruder Helmsley«, sagt er und deutet auf den riesigen rotbärtigen Mann neben sich. »Uns wurde von unsittlichem Verhalten berichtet.«
    Also geht es nicht um uns.
    Erleichterung durchströmt mich, aber gleich darauf fühle ich mich auch schon schuldig. Lavinia Anderson ist eine gute Frau. Sie ist eine gute Mutter, tüchtig und herzlich. Sie hat es nicht verdient, dass die Bruderschaft ihr Ärger bereitet.
    Lavinia schlägt sich die Hand vor den Mund. Ihr Ehering glänzt im schwächer werdenden Nachmittagslicht. »Ich habe nichts Unschickliches getan, Sir.«
    »Das haben immer noch wir zu entscheiden, verstanden?« Mit einem selbstgefälligen Grinsen wendet O’Shea sich uns zu. Er steht da wie ein Zwerghuhn, breitbeinig, mit geschwellter Brust und durchgedrückten Schultern, so wie ein kleiner Mann, der versucht, größer zu erscheinen. Er ist mir sofort durch und durch unsympathisch. »Guten Tag, Schwestern. Sie sind für die wöchentliche Essensausgabe hier?«
    »Ja, Sir.« Alice neigt demütig den Kopf, aber ich sehe einen Funken Auflehnung in ihren blauen Augen aufblitzen.
    »Es ist ein Jammer, dass Sie Ihre Wohltätigkeit an eine Unwürdige verschwendet haben. Armut ist keine Entschuldigung für liederliches Betragen«, knurrt Helmsley. »Gerade erst den Ehemann verloren und schon ist sie hinter dem nächsten her! Ein Skandal ist das.«
    Mrs Anderson umklammert Henrys dünne Schulter. Alle Farbe ist aus ihrem Gesicht gewichen.
    »Bestreiten Sie etwa, dass Sie sich gestern Abend von einem Mann haben nach Hause begleiten lassen? Einem Mann, der nicht mit Ihnen verwandt ist?«, fragt Bruder O’Shea.
    »Nein, das bestreite ich nicht«, erwidert Lavinia zögerlich. Ihre Stimme zittert, als sie erklärt: »Mr Alvarez ist ein Kunde aus der Bäckerei. Er ging zur gleichen Zeit wie ich und bot an, mich nach Hause zu bringen.«
    »Als eine Witwe, Mrs Anderson, muss ihr Verhalten absolut tadellos sein. Sie dürfen nicht mit fremden Männern auf der Straße verkehren. Das wissen Sie doch sicherlich.«
    Den Blick gesenkt, beiße ich mir auf die Lippe. Was hatte sie denn für eine Wahl – sollte sie etwa alleine nach Hause gehen und riskieren, überfallen oder belästigt zu werden? Oder sich eine Kutsche nehmen, für die sie kein Geld hat? Ihre Arbeitgeber um Begleitung bitten? Mädchen wie Alice und ich würden sich niemals mit solchen Problemen konfrontiert sehen. Bevor wir uns der Schwesternschaft anschlossen, wurden wir auf Schritt und Tritt von Dienstmädchen und Gouvernanten verfolgt. Eine Dame, die etwas auf ihren Ruf hält, fährt vor unanständigen Blicken verborgen in einer geschlossenen Kutsche und läuft nicht durch Staub und Dreck, wo jeder sie angaffen und sich ihr gegenüber Freiheiten herausnehmen kann.
    Aber Mrs Anderson kann sich weder eine Kutsche noch ein Dienstmädchen leisten. Sie hat keinen Ehemann und keine Eltern, die sich um sie kümmern können. Was, bitte schön, soll sie der Meinung der Bruderschaft nach denn tun? Zu Hause bleiben und verhungern?
    »Wir haben ja auch gar nicht verkehrt. Ich trauere jeden Tag um meinen Mann!«, beteuert Lavinia. Mit zurückgeworfenen Schultern, das Kinn hochgereckt, sieht sie O’Shea direkt ins Gesicht.
    »Sie sind eine Lügnerin.« O’Shea nickt Helmsley zu, der ihr daraufhin eine schallende Ohrfeige gibt.
    Ich zucke zusammen, als ich mich daran erinnere, wie Bruder Ishida mir vor gar nicht allzu langer Zeit genauso eine Ohrfeige verpasst hat, und meine Hand schnellt zu meiner Wange empor. Die Schnittwunde, die sein Amtsring hinterlassen hat, ist inzwischen verheilt, aber die Erniedrigung – und das boshafte Vergnügen in seinem Gesicht – werde ich nie vergessen.
    Lavinia stolpert zurück und stößt gegen die Wiege. Der Säugling fängt an zu wimmern.
    Da wirft sich Henry auf Helmsley und umklammert dessen Beine. »Nicht meine Mama hauen!«
    Er sollte das hier nicht mit ansehen müssen. Kein Kind sollte Zeuge von so etwas sein.
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