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Todesnähe

Todesnähe

Titel: Todesnähe
Autoren: P. J. Tracy
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für eine Überraschung gut. Ihre üppigen Ausmaße machten sie alles andere als schnell und wendig, und auch sonst ließ nichts an ihrem perfekt frisierten Bob und dem makellosen Make-up darauf schließen, dass dieser Inbegriff einer Fashionista rasch und durchdacht reagieren würde, wenn Gefahr drohte. Doch kaum war die erste Gewehrsalve erklungen, hatte sie auch schon ihre High Heels abgestreift und sich unterhalb der Fensterbank zusammengekauert, Federkleid hin oder her. Die schrecklichen Tage in der Wildnis von Wisconsin hatten sie zurechtgeschliffen wie eine scharfe Stahlklinge.
    «Bleib unten, Annie», zischte Grace, während sie selbst langsam auf die schwere Eingangstür mit den Dreifach-Glasscheiben zurobbte.
    «Pah», machte Annie und brachte ihr Gewehr in Anschlag, ohne dass ihr Nagellack dabei Schaden nahm. «Das war doch noch weit weg.»
    «Ich weiß. Die Leute des Chiefs stehen zwischen uns und den Schüssen. Sie sind jetzt im Visier.»
    Annie senkte den Kopf, und obwohl Grace ihre Freundin nicht als Anhängerin göttlicher Fürsprache kannte, hatte sie doch das Gefühl, dass Annie für die tapferen Männer betete, die sie dort draußen zu schützen versuchten.
    Als Roadrunner gebückt ins Zimmer kam, fuhren sie beide herum. «John bleibt hinten. Er hat mich zu euch geschickt.»
    Grace drehte sich wieder zurück und spähte durch die kleinen Fenster in der Haustür, den Ansatz einer Sorgenfalte auf der Stirn. Das war eigenartig. Im hinteren Teil des Hauses drohte keine unmittelbare Gefahr von den Schüssen. John hätte selbst ins Wohnzimmer kommen und Roadrunner hinten lassen müssen. Sie überlegte kurz, dann holte sie tief Luft und eilte hinüber in die Küche.
    Dort war alles leer und still.
    Grace schaute aus dem Fenster und sah eine vertraute Gestalt, die rasch von Deckung zu Deckung eilte. John Smith, pensionierter FBI -Agent und Patriot …
    «Ach, John», flüsterte sie. Sosehr sie ihn für seinen Mut liebte, sie hasste ihn auch dafür: Er wusste ja gar nicht, wie das ging.
     
    Schon viel zu oft in ihrem Leben hatte Grace das Herz auf diese Weise in der Brust gehämmert, doch bisher immer aus Angst um ihr eigenes Wohl. Diesmal war es anders. Diesmal hatte sie Angst um jemand anderen, jemanden, den sie liebte, und das veränderte alles.
    Hals über Kopf rannte sie mitten hinein in den Wald, Johns Fußspuren nach, und die frostbedeckten Zweige knackten um sie herum.
    Viel zu laut
, dachte sie und lauschte ihren eigenen schweren Atemzügen in der eisigen Luft, dem Knacken ihrer Schritte auf dem gefrorenen Boden. Das war nicht mehr die alte Grace MacBride, die mit angehaltenem Atem um die Ecken geschlichen war, deren Schritte keinen Laut verursacht hatten. Sie hielt nicht mehr nach möglichen Gefahren Ausschau, fürchtete sich nicht einmal davor – sie rannte einfach blindlings etwas Wichtigem hinterher.
    Vor sich hörte sie eine neue Maschinengewehrsalve, blieb aber trotzdem nicht stehen. Und dann, kurz vor einer Anhöhe, die ihr die Sicht verstellte, sah sie, dass Johns Spuren schleppender wurden, und gleich darauf entdeckte sie rote Tropfen im weißen Schnee.
    Jetzt hielt sie doch inne, musterte die Tropfen und dachte:
Cherries in the Snow
. Der Schminktisch einer ihrer vielen, vielen Pflegemütter stand ihr plötzlich wieder vor Augen, der goldene Lippenstift mit dem farbigen Deckel, der aussah wie eine Kugel Erdbeereis. Damals hatte sie Lippenstift noch nicht gemocht, nicht einmal begriffen, wozu er gut sein sollte, doch unter dem goldenen Stift klebte ein kleines weißes Schild, das die Farbe als «Cherries in the Snow» auswies, und Grace hatte den Namen wunderschön gefunden.
    Jetzt allerdings war daran nichts Schönes mehr. Die Schüsse waren verstummt, aber wahrscheinlich wäre auch das egal gewesen. Grace nahm nichts mehr um sich herum wahr, sie war voll und ganz erfüllt von jenem Teil ihres Verstands, der genau wusste, der zutiefst fürchtete, was sie hinter diesem kleinen Hügel im Wald finden würde.
    Seltsam, dachte sie, dass ihre Beine nach dem Lauf durch den Wald überhaupt nicht müde waren – einfach nur steif, so als hätte sie Holzklötze an den Füßen. In ihren bleiernen Bewegungen lag keine Anmut mehr.
    Ein Schritt, ein zweiter, ein dritter, dann war sie oben auf der Anhöhe und blickte hinunter. Einen Augenblick, vielleicht auch zwei, blieb sie ganz reglos, spürte ihre eigenen tiefen Atemzüge, während die Kälte aus dem Schnee langsam in sie hineinkroch, durch die
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