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Tod in Blau

Tod in Blau

Titel: Tod in Blau
Autoren: Susanne Goga
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wenig
     verwundert. Im Mai war er zum ersten Mal vor dem Atelier erschienen und
     hatte unverwandt hineingestarrt. Er unternahm keinen Versuch,
     hereinzukommen oder Arnold anzusprechen, sondern betrachtete durch die
     Scheibe das geordnete Chaos, das im Atelier herrschte, Staffelei,
     Einmachgläser mit Pinseln, ein Sammelsurium verschiedener Spachtel,
     buntfleckige Tücher und Kittel, die an einer einfachen Holzleiste
     hingen. Den rohen Holztisch mit den beiden Stühlen; die Chaiselongue,
     die mit einem bunten orientalischen Tuch bedeckt war; den hohen
     dreiteiligen Spiegel.
    Nach einer Woche trat der
     Junge zum ersten Mal in die Tür. Die Maitage waren schon warm, und es
     wehte ein angenehmer Duft von grünem Gras und jungem Laub herein.
     Wegner hatte gerade seinen Pinsel in ein kräftiges Ultramarinblau
     getaucht, als ihn eine leise, ein wenig raue Stimme von hinten ansprach.
    »Was malst du da?«
    Arnold Wegner drehte sich um,
     die Palette in der Hand.
    »Einen See.«
    »Und wo ist der?«
    Wegner zeigte auf seine
     Stirn. »Hier drin.«
    Der Junge sah ihn verwirrt
     an. »Du musst doch sehen, was du malst.«
    »Nicht unbedingt. Ich
     kann auch aus der Erinnerung malen, zum Beispiel einen See, den ich
     irgendwann einmal gesehen habe. Schau her.« Er deutete auf eine
     Leinwand, die in der äußersten Ecke des Raums hing und ein
     graues Haus in einem großen Garten mit blühenden Bäumen
     zeigte. »Das Haus meiner Eltern. Es wurde abgerissen, aber ich habe
     immer noch im Kopf, wie es vor dreißig Jahren ausgesehen hat. Und so
     habe ich es auch gemalt.«
    Der Junge trat interessiert näher.
     »Aber das sieht alles so schief und durcheinander aus.« Er
     blickte Wegner besorgt an, als hätte er etwas Falsches gesagt, doch
     der Maler lächelte nur.
    »Es ist auch kein
     genaues Abbild des Hauses. Ich malte es so, wie ich das Haus empfunden
     habe, als ich ein Kind war.« Er legte die Palette weg und wischte
     sich die Hände an einem Lappen ab. »Na komm, ich erklär's
     dir.«
    Er zeigte auf die Fenster.
     »Die Fenster auf meinem Bild sind sehr klein, kleiner als in
     Wirklichkeit. Weil ich immer das Gefühl hatte, nicht genug von der
     Welt draußen zu sehen. Das Haus ist grau, wirkt aber düsterer,
     als es tatsächlich war. Nur ich selbst habe es als düster und
     beengend empfunden und deshalb so gemalt. Der Garten hingegen ist bunt und
     schön, weil ich mich gern an ihn erinnere. Oft habe ich mich in einem
     Baum verkrochen, hoch oben in einer Astgabel, und mir vorgestellt, in
     einem fernen Land zu sein. Während meine Mutter mich vergeblich zum
     Abendessen rief und immer wütender wurde.«
    »Meine Mutter ist
     manchmal auch wütend«, sagte der Junge unvermittelt und schaute
     ihn aus großen Augen an.
    Wegner las in ihnen eine
     Kindlichkeit, die nicht zu dem Körper des etwa zwölfjährigen
     Jungen passte.
    »Manche Leute auf
     deinen Bildern sehen ganz hässlich aus«, meinte der Junge und
     schaute Wegner von der Seite fast ein wenig herausfordernd an.
    »Viele Leute sind hässlich.«
    »Aber nicht so hässlich.«
     Er zeigte auf ein halbfertiges Portrát, das einen ungeheuer fetten
     Mann mit Zwicker darstellte.
    Seine Hängebacken waren
     blaurot, die Nase knollig, die Ohren ausladend wie die Henkel einer
     Suppenterrine. Er trug einen Straßenanzug, dazu aber eine Reihe
     Orden auf der Brust. Die Haut an Stirn und bartlosem Kinn glänzte
     speckig.
    »Oh doch«, meinte
     Wegner, »von innen schon. Menschen können innen oder außen
     hässlich sein. Manche auch beides. Das Gute an denen ist, dass man
     sie sofort erkennen kann.«
    »Ist der Mann nicht böse,
     wenn du ihn so malst?«, fragte der Junge.
    »Er weiß nicht,
     dass ich ihn gemalt habe. Manchmal male ich Leute, die ich in der Straßenbahn
     gesehen habe. Oder auf dem Rummelplatz. Wenn mir jemand auffällt,
     merke ich mir das Gesicht, die Gestalt, auffällige Dinge wie fehlende
     Körperteile, ein Hinken, schlechte Zähne.«
    »Ich dachte, Bilder müssen
     schön sein.«
    »Das denken viele
     Leute. Aber ich kann nur so malen und nicht anders.«
    Der Junge sah zu Boden.
    »Was ist denn los?«
    »Ich … wie bin
     ich denn? Innen hässlich oder außen?«
    Einen Moment lang wusste
     Wegner keine Antwort, fühlte sich seltsam angerührt von der
     Frage. »Ich glaube, du bist gar nicht hässlich. Jetzt muss ich
     aber weitermachen.«
    »Darf ich mal
     wiederkommen?«
    »Natürlich.«
    Als der Junge langsam,
     beinahe
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